Vijay Iyer

Rhythmus ist Aktion

Er hat Mathematik und Physik in Yale studiert, in Berkeley über Musikwahrnehmung promoviert, lehrt als Professor in Harvard und erhielt – neben vielen anderen Auszeichnungen – 2013 das Stipendium des MacArthur-Preises. Ob zur amerikanischen Gesellschaft oder zur Geschichte des Jazz – Professor Vijay Iyer liefert stets kompetente Analysen. Auch sein Klavierspiel ist hochintelligent.

Von Hans-Jürgen Schaal

Das Politische und das Musikalische sind beim neuen Album kaum zu trennen – das beginnt schon beim Albumtitel Uneasy. Vijay Iyer schrieb das Titelstück vor zehn Jahren, auf der Höhe der Obama-Präsidentschaft. Schon damals empfand der Pianist das soziale Klima in den USA als „uneasy“, als „unbehaglich“. Inzwischen hat sich dieses ungute Gefühl zu massiven Konflikten gesteigert, die den nationalen Frieden und den Zusammenhalt der Demokratie gefährden. Das Stück „Combat Breathing“ wiederum entstand 2014 für eine Politaktion im Sinne der Black-Lives-Matter-Bewegung; der Stücktitel nimmt Bezug auf die Kolonialismus-Debatte. Neu ist „Children of Flint“, das das Album eröffnet. Es erinnert an die Wasserkrise in der ehemaligen Autoindustrie-Stadt Flint (Michigan), bei der Tausende von Kindern eine Bleivergiftung erlitten. „Ich bin dankbar für das Privileg, Musik machen und zu Gehör bringen zu dürfen, gerade während so viele Menschen unter prekären Bedingungen leben“, sagt Iyer. „Ich hoffe, dass unsere Musik denen, die ihn brauchen, ein wenig Trost geben kann.“

Musikalisch manifestiert sich die „Uneasiness“ des Titels in zehn Stücken von konfliktreicher Komplexität – polymetrisch durchwirkt, harmonisch verzinkt, rhythmisch fordernd. Es sind „wunderschöne kleine Puzzles“, wie Linda May Han Oh, die Bassistin des Trios, meint. Die Metren haben fünf, sieben, elf, dreizehn Beats – es fällt schwer, auf diesem Album überhaupt einen geraden Takt zu finden. Manchmal wechseln die Taktarten ständig („Uneasy“), manchmal wachsen sie sich zu karnatisch inspirierten Rhythmuszyklen aus („Configurations“), manchmal gipfeln sie in polyrhythmischen Überlagerungen („Drummer’s Song“). „Ich habe viele Jahre lang metrische Zyklen und Rhythmen studiert“, sagt Vijay Iyer. „Nicht als Mathe-Aufgaben oder Virtuosentricks, sondern so, wie sie in den verschiedenen Musikkulturen rund um den Globus auftauchen: als Tanzrhythmen. Einmal war ich bei einer griechischen Hochzeit hier in New York und die ganze Versammlung tanzte im Elfvierteltakt – alte Frauen, kleine Kinder, alle. Ich versuche nur, diese humanen Qualitäten von Bewegung einzufangen. Um es einfach zu sagen: Rhythmus ist Aktion.“

Trotz der komplexen, verzwickten Rhythmik fehlt dieser Musik überhaupt nichts an Dichte, Dynamik und Details, im Gegenteil: Das Trio entwickelt einen enormen Drive und spontanen Gestaltungswillen. Vijay Iyer zögert nicht, Linda May Han Oh (b) und Tyshawn Sorey (dr) als „master musicians“ zu würdigen. Seit Anfang 2019 spielen die drei in dieser Formation zusammen, aber dank des jährlichen Workshops im kanadischen Banff sind sie schon seit vielen Jahren miteinander vertraut. In Banff hatten sie sich erstmals als Trio ausprobiert: „Dabei merkten wir, dass wir eine Art Gruppenidentität mit einer ganz eigenen Energie haben.“ Das Spiel im Trio ist definitiv Iyers Schlüsselformat – er schätzt die Flexibilität des Dreiers, die Reaktionsschnelligkeit und organische Entwicklungsfähigkeit. Auch die langjährige Formation mit Stephan Crump (b) und Marcus Gilmore (dr), die aus dem Quartett von Rudresh Mahanthappa hervorging, ist nicht aufgelöst, sondern erst mal nur auf Eis gelegt.

Jedes Stück auf Uneasy bildet einen Höhepunkt von insistierender Kraft. Diese Musik hat Feuer und Spannung, aber immer wieder auch eine vibrierende, fast rockige Erdigkeit, die an Randy Weston oder Abdullah Ibrahim denken lässt. „Ja“, bestätigt Vijay Iyer, „ich bin von einer bestimmten Richtung komponierender Pianisten inspiriert, die einen tiefen, dunklen Sound und eine spirituelle Sensibilität haben.“ Und dann zählt er die auf, die ihm besonders am Herzen liegen: Duke Ellington, Thelonious Monk, Elmo Hope, Andrew Hill, Randy Weston, Hasaan Ibn Ali, Abdullah Ibrahim, McCoy Tyner, Don Pullen, Sun Ra, Cecil Taylor, Alice Coltrane, Horace Tapscott, Muhal Richard Abrams, Amina Claudine Myers, Bheki Mseleku, Geri Allen … „Für keinen und keine von ihnen war Virtuosität ein Selbstzweck. Sie alle hatten Zugang zum Göttlichen. Ihre Musik besitzt eine Message.“

Nur zwei Stücke auf dem Album sind Coverversionen. Cole Porters „Night and Day“ (allerdings in ungeradem Takt) ist angeregt von der Aufnahme, die Joe Henderson und McCoy Tyner 1964 machten: „Es hat eine fröhliche Stimmung – als Balance zu den dunkleren Stücken auf unserem Album.“ Auch Geri Allens „Drummer’s Song“ mit seinen rhythmischen Schichtungen fügt sich bestens ins Ganze. „Ich bin Ms. Allen direkt verpflichtet“, sagt Iyer. „Ich habe ihre Kompositionen und ihr Klavierspiel mehr als 30 Jahre lang studiert. Als ich erwachsen wurde, in den späten Achtzigern, frühen Neunzigern, hat mich ihre eigenwillige Herangehensweise sehr angesprochen. Ms. Allen besitzt dieses Widerspenstige, das mich an Monks Dissonanzen und Kantigkeit erinnerte. Ich mochte ihre reduzierten Improvisationen und ihren starken Rhythmus. Selbst in den komplexesten Formen konnte sie sich frei bewegen. Auf meine eigene Weise versuche ich, mich an diese bemerkenswerten Qualitäten heranzuarbeiten.“

Aktuelles Album:

Vijay Iyer Trio: Uneasy (ECM / Universal)