Von Roland Spiegel.
Urplötzlich scheint zumindest ein Teil des Publikums um Jahrzehnte jünger: Zuhörer im Schüler- und Studentenalter flankieren ausgelassen tanzend die Sitzreihen. Und auch von den Älteren hält es viele nicht auf den Sitzen. Der Grund: Jazz trifft Techno – und reißt mit. Zumindest dann, wenn er von der Münchner Jazzrausch Bigband gespielt wird, einem jungen, 15-köpfigen Ensemble, dessen Chefs der barocke Kraftkerl Roman Sladek an der Posaune und der filigrane Denker Leonhard Kuhn am Laptop sind. Kuhn, auch studierter Mathematiker, schreibt für diese Band Stücke von nerdig verschrobenem Witz. Da inspiriert ihn etwa ein mathematisches Phänomen wie die sogenannte Dirichlet-Funktion zu einem Liebeslied. Und in flackernd nervösen Klängen peitscht es die Zuhörer durch emotionale Zustände. Die Band, mit einem Bläsersatz, der auch eine Tuba enthält, ist ein Muster an knifflig-unterhaltsamer Präzisionsarbeit. Jubel in der ausverkauften Wackerhalle in Burghausen. Jazzrausch – so wirkt er.
Zum 49. Mal gab es im März die Internationale Jazzwoche im südostbayerischen Grenzort Burghausen an der Salzach. In der Stadt mit der über einen Kilometer langen Burg dachte man schon dieses Jahr viel ans nächste, das Jubiläums-Jahr. Aber auch die Vorjubiläums-Ausgabe überraschte mit einigen atmosphärisch besonders geglückten Highlights. Die spielten sich nicht zuletzt in Generationen-Gegensätzen ab. Denn besonders auffällig bei diesem Festival waren neben schwungvollen Jung-Jazzern nicht zuletzt zwei über 80-jährige Saxofonisten. Der eine: der aus Kamerun stammende und in Frankreich lebende Manu Dibango, 84 und vom Erscheinungsbild her ein Mann in den allerbesten Jahren. Er spielte zu den feinen, präzisen Rhythmen seiner Band Tenorsaxofon mit makellosem, weichem Ton und brachte mit magnetischer Musikalität den Saal zum Schwelgen. Der zweite: der Mann, der einst Henry Mancinis „Pink Panther“ zum Klingen brachte – der Amerikaner Don Menza (81). Er powerte mit seinem Quartett sechs Abende im Burghauser Jazzkeller und verblüffte mit Tenorsaxofontönen von schier berstender Kraft.
Vielleicht gibt es im Jazz einfach kein Alter. Denn auch der Künstlerische Leiter der Jazzwoche, Joe Viera (85), kann noch immer mit glänzenden Augen musikalische Überraschungen bewundern: etwa die gelassen-energiegeladene Art, wie die aktuelle Band des Schlagzeugers Wolfgang Haffner (unter anderem mit Vibrafonist Christopher Dell, Pianist Roberto Di Gioia und Gitarrist Daniel Stelter) Stücke wie Chick Coreas „Spain“ und Eigenkompositionen wie „Star“ spielte. 1986, mit 20, hatte der Burghauser Dauergast Haffner in der Band von Saxofonist James Moody erstmals bei diesem Festival gespielt. Damals gehörte er zu den Entdeckungen. Diesmal war es vor allem die Gruppe Leléka aus Berlin, die Siegerband des diesjährigen Burghauser Jazzwettbewerbs, mit der ukrainischen Sängerin Viktoria Anton. Eine Stimme mit Aura und einem hellen, weichen Klang voll fesselnd natürlicher Kraft. Nach einem Klagelied über die Opfer des Krieges verharrte das Publikum nach dem letzten Ton 20 Sekunden in atemloser Stille. Jazz – in Fällen wie diesem Musik mit starker menschlicher Botschaft.