Über den Tellerrand

Was passiert, wenn wir über den Rand des Tellers schauen? Vieles sieht anders aus, und die neue Perspektive ermöglicht tiefere Einblicke. Diese neue Artikelserie zu musikalisch-kulturellen Themen, von hochinteressant bis brisant, wird die nächsten Ausgaben der JAZZTHETIK bereichern. Zu Wort kommen hochgeschätzte Kollegen aus verschiedenen Ländern, auch von den Rändern“ der EU. Aus – leider immer noch – aktuellem Anlass starten wir mit einem Journalisten aus dem Land, welchem wir uns, trotz Brexit, mehr denn je freundschaftlich verbunden fühlen: Großbritannien.

In- and Outside London – Jazz zwischen Provinz und Metropole

Von Kevin Le Gendre

Kevin LeGendre

Heiß erwartet auf einem der größten kulturellen Events in Europa, dem London Jazz Festival, ist in diesem Jahr die Premiere von The Black Peril des Saxofonisten, Komponisten und Rappers Soweto Kinch. Das Multi-Media-Projekt beschäftigt sich mit den Rassenunruhen in britischen Städten im Jahr 1919. Das kommt zur rechten Zeit, angesichts des beunruhigenden Widerhalls von lslamophobie und Fremdenfeindlichkeit im Brexit-UK, ganz zu schweigen von der virulenten Geräuschkulisse ultrarechter Extremisten in Europa und Amerika. Abgesehen von der politischen Dimension seines Schaffens ist an Kinch noch etwas anderes bemerkenswert: Er ist nicht aus London, sondern aus Birmingham, einer dynamischen, multikulturellen Stadt mit einem reichen Jazz-Erbe. Die Nachkriegs-Legende Andy Hamilton lebte dort und – aktueller – Xhosa Cole, Gewinner des BBC Young Jazz Musician of the Year Award.

Immer noch gilt London sowohl als das Epizentrum der britischen Jazzszene als auch der UK-Plattenindustrie, dennoch ist die englische Provinz Tummelplatz für die Talente der improvisierten Musik und immens wichtig für das vitale Wachstum des Genres. Bristol, Glasgow, Derby, Manchester und Leeds haben im Laufe der Jahre viele herausragende Musiker hervorgebracht: den Trompeter Nick Malcolm, den Saxofonisten Raymond MacDonald, den Vibrafonisten Corey Mwamba und die Hunter-Brüder Johnny (dr) und Anton (g). Newcastle und der Nordosten können sich rühmen für die Gitarristen Chris Sharkey und Chris Montague, den Pianisten Paul Taylor, den Bassisten John Pope sowie die Sängerin Zoe Gilby.

Ein weiteres vielversprechendes Talent aus der TynesideRegion (Newcastle) ist die Saxofonistin Faye MacCalman, eine progressive junge Musikerin mit auffallend vielseitigem Portfolio. Man rechnet sie zur Avantgarde, dennoch ist sie am Erforschen möglichst vieler Jazz-Traditionen interessiert. Sie möchte Musik machen, die ihre eigenen Unterscheidungskriterien hat, ob sie nun über Akkordwechsel spielt oder in harmonisch offenen Strukturen improvisiert. MacCalman leitete kleinere Besetzungen, ist aber auch Mitglied des aufregenden Kollektivs Archipelago (mit dem o.g. John Pope und Schlagzeuger Christian Alderson), das aufreibende, knirschende Electronics mit den treibenden Rhythmen von Minimalismus und Post-Rock zusammenstrickt. Ihr starker kreativer Drang und die daraus entstehende abenteuerliche Musik wurden befeuert durch vielfältigen stilistischen Austausch und scharfsinnige, in ihrer Stadt aktive Promoter. „Die Musik- und Kunstszene in Newcastle mit ihrem Crossover von Folk, Rock, Jazz und freier Improvisation speist die Jazzszene insgesamt und lässt sie nach vorne schauen“, sagt sie. Das Newcastle Festival of Jazz and Improvised Music bringt jeden Oktober unglaubliche Musik in die Stadt, von halb improvisiertem Zeug bis hin zu Story Telling, Stummfilmmusik und Free Jazz.“ Solche Erfahrungen sind unbezahlbar, aber MacCalman weiß genau, dass junge Musiker, die eine anspruchsvolle Musikform wie Jazz lernen wollen, natürlich ein entsprechendes Training brauchen, um sich entwickeln zu können. Im Norden brachte eine Institution wie das Leeds College of Music Dutzende von hochinteressanten Musikern hervor, während es im Süden Schulen wie Trinity, Guildhall und die Royal Academy gibt wie auch die vom Veteranen Gary Crosby gegründete Agentur Tomorrow’s Warriors.

Die große Frage bleibt, warum so wenige Nicht-Londoner Musiker den Durchbruch über die lokale Szene hinaus schaffen. Es müsse einfach mehr in die regionale Förderung investiert werden, so MacCalman: „Der Nordosten Englands wird bei der Finanzierung der Kunst- und Musikausbildung oft übersehen. Wer seinen Sitz außerhalb der Hauptstadt hat, für den dauert es länger, Verbindungen aufzubauen, es gibt nicht so viele Musiker, Rundfunkveranstalter, Journalisten und Mundpropaganda wie in großen Städten. Ich denke, die Regierung muss darauf achten, Kreativität und Bildung in Gemeinden und Arbeiterstädten wie Newcastle zu fördern, um sicherzustellen, dass die Jazzszene weiterhin zugänglich bleibt und neue Stimmen hervorbringt.“

Der Jazz schneidet traditionell gegenüber Klassik und Oper schlecht ab. Finanzielle Hilfe ist politisch ein heißes Eisen, besonders wenn es um Stipendien z.B. vom Arts Council geht. Es tut not, dem Jazz mehr Beachtung zu verschaffen und die Investitionen für Jazzkünstler in ganz Großbritannien anzugleichen. Traditionell war die Nord-Süd-Kluft immer sowohl ein soziales wie kulturelles Problem, das im langen Schatten des Brexit immer dunkler zu werden droht. Andererseits gibt es bereits Künstler, die versuchen, die Kluft zwischen Provinz und Metropole zu überbrücken. Pat Thomas und Alexander Hawkins, zwei Top-Pianisten aus Oxford, sind Beispiele für britische Jazzmusiker, die in und außerhalb Londons erfolgreich sind. Auch wenn sich Musiker in wichtigen regionalen Städten von der Westminster-Elite „zurückgelassen“ fühlen, will sich eine Künstlerin aus Newcastle wie MacCalman nicht auf einen Anti-Establishment-Kurs festlegen lassen und setzt auf den Do-it-yourself-Ansatz: „Wir können uns bei Gigs und dem Aufbau einer Szene nicht auf die Politik verlassen. Ich möchte langfristig mit Archipelago und als Solistin in ganz Europa touren und gleichzeitig neue Künstler aus verschiedenen Szenen, Städten und Ländern kennenlernen und von ihnen lernen.“

(Aus dem Englischen von Jan Kobrzinowski)

[Text zum Autoren; in die Nähe des Fotos:]

Der Londoner Journalist Kevin Le Gendre schreibt für THE INDEPENDENT, THE GUARDIAN, ECHOES, JAZZWISE u.a. Er ist Autor der Bücher Soul Unsung – Reflections on the Band in Black Popular Music (Equinox) und Don’t Stop the Carnival – Black British Music (Peepal Tree Press).