Bingen swingt
Von Norbert Krampf. Jedes Jahr im Juni breitet sich der Jazz für ein Wochenende im beschaulichen Bingen aus. Seit 2016 sorgt Christiane Böhnke-Geisse, ehemals Programmchefin der Münchener Unterfahrt , als künstlerische Leiterin des Festivals dafür, dass Bingen nicht nur traditionell swingt (und soulpopt), sondern auch einige Bands mit avancierteren Konzepten präsentiert. Die 23. Ausgabe trug den Untertitel Guitar Vibes, folglich gab es auf den sechs Hauptbühnen neben rockigen Anklängen einige Ausflüge in die Jazzgeschichte zu besichtigen. Etwa von Bands wie dem Münchener Hot Club de M Belleville, die Django Reinhardts Sinti-Swing-Erbe weitertragen. Oder durch die Akustik-Gitarristen Diknu Schneeberger und Joscho Stephan. Modernere Akzente setzte das Kölner Trio um E-Gitarrist Tobias Hoffmann, der Jazz-Ideen, Rock-Einflüsse und humorvolle Surf-Erinnerungen vereint.
Couragiertere Künstler und Künstlerinnen liefen diesmal kaum Gefahr, sich gegenseitig Konkurrenz zu machen. Am entschiedensten aus gängigen Rahmen fiel Hervé Samb. Als versierter E-Gitarrist hat sich der Teilzeit-Kalifornier aus Dakar schon neben Stars wie Marcus Miller und Salif Keita profiliert. In Bingen spielte er nun vor allem eine Sinti-Gitarre, die im Kontext von Afro- und Funkjazz bislang wohl kaum zu hören war. Eine vermeintlich schräge Kombination, die unter Sambs virtuosen Fingern ebenso stimmig wie spannend klang. Zumal er mit dem Perkussionisten Alioune Seck aus Dakar einen Großmeister der Sabar-Trommeln und -Rhythmen hinter sich und darüber hinaus noch Sänger Alpha Dieng vom Orchestra Baobab dabeihatte.
Die Österreicher Herbert Pirker (dr) und Raphael Preuschl (b) genießen hierzulande einen hervorragenden Ruf, seitdem sie bei Pianist David Helbock und Mario Rom‘s Interzone (Pirker) spiel(t)en. Im Fabulous Austrian Trio FAT mit dem seit 2004 in Los Angeles ansässigen E-Gitarristen Alex Machacek kommen ihre Qualitäten ebenfalls zum Zug. Die größtenteils von Machacek stammenden Kompositionen changieren zwischen geschmack- und klangvollen ruhigeren Stücken und Funk- bzw. Rockjazz-Titeln mit Groove und gängigen Phrasen, komplexen Breaks und diversen Soundeffekten.
Susan Weinert, Nina Attal und Monika Roscher vertraten in Bingen die weibliche Sicht auf die Gitarre. Wobei Roschers unkonventionelle Bigband-Kompositionen und mal opulente, mal gewitzte Arrangements noch mehr bestechen als ihre eingeflochtenen, teils ruppigen Soli auf der Stratocaster. Von König Fußball auf den frühen Termin um 18 Uhr verdrängt, mussten neue Stücke, die an eine Lichtshow und einen klingenden Anzug gekoppelt sind, wegen des Tageslichts gestrichen werden. Aber auch das Repertoire der beiden CDs Of Monsters And Birds und Failure in Wonderland bietet immer noch viel Raum für überraschende Wendungen, Sounds (inklusive Elektronik) und Soli der 13 (!) Bläser. Mit Roschers unprätentiös-erzählerischem Gesang, dem Wechsel von Melodien, interessanten Details und weit ausholenden Bögen nimmt die Bigband der Münchenerin weiterhin eine Sonderstellung unter den Großformationen ein.