Cécile McLorin Salvant

Cecile McLorin Salvant © Shawn Michael Jones

Geister-Tagebuch mit rotem Faden

Es gibt Dinge, von denen wir, während wir sie tun, gar nichts wussten, und genau das ist der Grund, weshalb wir sie taten.“ Cécile McLorin Salvant überrascht mit ihrem neuen Album nicht nur die Zuhörenden, sondern auch sich selbst. Mit ihren musikalischen Geistergeschichten, die im „spiegelbildlichen Verhältnis zueinander“ stehen, umarme sie als „Kuratorin des Vielschichtigen ihre Seltsamkeiten“, sagt die Sängerin über Ghost Song.

Von Jan Kobrzinowski

Ich probierte diese eigenartige Symmetrie aus, damit die Songs zusammenpassen, ganz gleich, ob man mit dem Hören am Ende des Albums beginnt.“ Hinter einer scheinbar willkürlichen Reihenfolge verbirgt sich ein roter Faden für die Reise durch die Geister-Landschaft. Aus einem fast sakralen Beginn schält sich zunächst ein wohlbekannter Song aus dem vollem Kirchenhall: ein Klassiker der späten 1970er, „Wuthering Heights“ von Kate Bush. „Es steht am Beginn, gerade weil es mit ‚Unquiet Grave‘ am Ende verbunden ist. Beide stammen aus ein und derselben auseinandergeschnittenen Aufnahme.“ Cécile begann mit dem irischen Folksong „Cúirt Bhaile Nua“ und suchte dann nach einem Übergang zu „Wuthering Heights“. Alles schließt mit einem Sean-nós, einem unbegleiteten Gesang aus schottischer und irischer Tradition, der tatsächlich wieder zum Anfang zurückführt. Als Hör-Experiment drängt sich auf, mit dem Schlusstrack zu beginnen und dann gleich wieder zum Anfang zurückzuzappen. Auf dem dazwischenliegenden Hörabenteuer des Albums passiert dann einiges: Zunächst verwandelt sich „Optimistic Voices“ aus The Wizard of Oz in Gregory Porters „No Love Dying“. „Einmal gab es die melodische Perspektive, aus der sich die Verbindung dieser Songs ergab. Die beiden Melodien sind miteinander verbunden. Und dann ist das Verrückte, dass du manchmal Links entdeckst, die du zunächst nicht siehst. In beiden geht es um die Hoffnung. Dorothy im Wizard of Oz ist verloren, aber immer noch optimistisch, ihren Weg nach Hause zu finden.“ In Porters Song geht es um die Metapher des Verloren-Seins des Vogels mit dem gebrochenen Flügel. Der eine Weg ist der kindliche, der andere der erwachsene Weg aus der Verlorenheit.

Für „I Lost My Mind“ in der Mitte des Albums, Céciles Ode an die Strangeness, an verrückte Dinge halt, spielt sie selbst Klavier, wie auch danach bei „Trail Mix“, dem einzigen Instrumental. „Ghost Song ist mein klingendes Tagebuch – offene Seiten eines klingenden Tagebuchs, das von meinen Einflüssen, Geheimnissen, Träumen, Gedanken und Ideen erzählt.“ „I Lost My Mind“ ist ein Beispiel für Céciles mit Ironie gespicktem Sinn für Humor. Hier wird das persönliche Drama nicht nur von der ernsten, sondern ebenso von seiner urkomischen Seite genommen, mit der in Repetition eingepackten Frage: „I lost my mind – can you help me find my mind?“ Ihr fällt dazu Almodóvars Film Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs ein: „Es hat etwas Tragisches, aber daran ist auch etwas total Komisches, es kommt darauf an, wie du aufgelegt bist, wenn du es hörst.“

Den Sinn für Humor teilt Cécile mit Brecht und Weill, den ironisch-zynischen Umgang damit kennt sie aus der eigenen Familie. Live gibt sie gerne Brecht-Klassiker auf Englisch zum Besten, so auch beim Gig in der Essener Philharmonie. „Es ist so lustig, bissig, so real – einfach großartig! Die Leute lieben es. Diese Songs besitzen eine große Modernität.“ So landete „The World is Mean“ aus der Dreigroschenoper auf dem Album.

Immer wieder erweitert das Ghost-Song-Team das klassische Begleitensemble aus Piano, Gitarre, Bass und Schlagzeug um Kirchenorgel, Banjo, Laute und Kinderchor. Stilistisch ergeben sich die denkbar unterschiedlichsten Anklänge: Folk, Soul („No Love Dying“), Mischungen aus archaischem Blues und Kinderlied („Ghost Song“), Musical, Broadway-, Theater- und Filmmusik, Jazzballaden („Moon Song“), Old Time und experimentell-freier Musik im jähen Wechsel („Optimistic Voices“). Neben lyrischer Lautenmusik („Dead Poplar“) fehlen auch lateinamerikanische Zutaten nicht: „Until“, die Coverversion einer eher unbekannten Sting-Nummer aus dessen Soundtrack-Repertoire, kommt im Improvisationspart als venezolanischer Joropo daher, locker instrumentiert mit Banjo, Flöte und Cajon. „Thunderclouds“, eine Ballade aus Salvants eigener Feder, holpert interessant zwischen Bolero und Two-Beat-Tune hin und her. Dass all diese stilistischen Gratwanderungen gelingen, ist auch den großartigen Mitmusikern zu verdanken, allen voran Salvants ständige Begleiter Martin Sewell (g) und Sullivan Fortner (p), die für viele, auch gewagtere Arrangements verantwortlich sind. Aber auch die anderen Beteiligten haben bei der Gestaltung von Struktur und Sound großen Einfluss. „Ich bin normalerweise musikalisch sehr vage, selbst bei meinen eigenen Songs. Die Musiker haben ungeheuren Impact auf die Richtung, die so ein Album einschlägt.“

Ghost Song ist nicht nur eine großartig eklektische Attacke auf die musikalische Langeweile, sondern auch ein Album, in dem sich Widersprüche auflösen können und sollen, musikalisch wie poetisch. Vorherrschendes Sentiment ist Salvants „Finden der Oase im Moment der Dunkelheit“, ihr Sinn für Humor entspricht der „Sonne inmitten der dunklen Wolke“.

Aktuelles Album:

Cécile McLorin Salvant: Ghost Song (Nonesuch / Warner)