Christoph Titz

Um die Ecke und darüber hinaus

© Natalia Kepesz

Allen Schwierigkeiten zum Trotz blickt der Wahlberliner Christoph Titz auf die Pandemie zurück als Geschenk, das ihm sowohl musikalisch als Trompeter als auch persönlich neue Wege eröffnet hat. Gleich fünfzehn Stücke sind in dieser Zeit entstanden, die sich, ergänzt um drei ältere, bislang unveröffentlichte auf seinem neuen Doppelalbum Walking the Corner Vol. 1 & Vol. 2 aka The Green and the Red Album verteilen.

Von Victoriah Szirmai

Während das grüne Volume von der eleganten Leichtigkeit lateinamerikanischer Tänze, dem Wohlgefühl smoother Breakbeats und der wohnzimmertauglichen Sinnlichkeit großer Balladen lebt, findet das rote mit straight geloopten Four-to-the-Floor-Beats und der einen oder anderen Davis-, Coltrane- und Alpert-Reminiszenz eher in den Clubs der Stadt sein Zuhause. Gemein ist beiden die pure Freude an, wenn nicht gar der unbedingte Wille zu einer glücklichen Überwindung von Hindernissen, Stolpersteinen und eben Ecken aller Art. Gleich der Opener „Finally Started“ beschreibt das euphorische Gefühl, endlich wieder mit dem Musikschreiben angefangen zu haben, wobei sein von Broken Beats und einem relaxten, aber nichtsdestoweniger funky blubbernden Bass unterlegter Mellow Sound an die Klänge der After-Work-Clubs der Nullerjahre erinnert, damals treffend als „Tanzmusik für Intellektuelle“ beschrieben – ein Etikett, das sich auch der Musik auf Walking the Corner problemlos anheften lässt.

Beispielsweise dem irgendwo zwischen Chet-Baker-inspirierter Ballade und langsamem Cha-Cha-Cha – „und komischerweise auch einem Hauch Santana“, wirft Titz ein – changierenden „Malecón“ oder der Swing-NoirNummer „Strollin‘“. Unter all das Tanzbare, das den Trompeter immens anzieht, obgleich er selbst kein passionierter Tänzer ist, mischt sich aber auch schon mal ein Stück epischer ECM-Jazz („The Long Now“), während die Vorab-Single „Avenue“ an jene Mobiltelefonwecker erinnert, die einen sanft, aber dennoch penetrant aus dem Schlaf reißen, atmosphärisch, aber unerbittlich.

© Jim Fade

Die Stücke zu schreiben, hat Titz sich gewissermaßen selbst verordnet, konnte doch die für 2000 und 2001 geplante Präsentation seines Vorgängeralbums – bis auf drei Live-Streams aus dem Berliner A-Trane – aus den bekannten Gründen nicht stattfinden. Genug Zeit also, sich mit seinem spielbereiten Trio, das neben ihm selbst aus Thomy Jordi (b) und Alfonso Garrido (dr, perc) besteht, neuem Material zuzuwenden. Geht das denn so einfach, Kreativität auf Knopfdruck? Für Titz geht das, und zwar gut. „Ich setze mich dabei selbst so sehr unter Druck, dass das dann nicht nur geht, sondern auch fix geht“, beschreibt er den Prozess der Doppelalbumwerdung. „Innerhalb von zwei Monaten habe ich fünfzehn Songs geschrieben. Das hat mich selbst überrascht. Aber letzten Endes war die Pandemie so etwas wie Student sein mit mehr Wissen, denn ich hatte plötzlich wieder Zeit.“ Und die konnte er in die Entwicklung seiner Musik stecken. „Bislang war ich immer so wie der Sänger einer Band, also thematisch allein, und die anderen haben das mit Sounds umgeben. Jetzt spielt auch die Band Themen, wir haben viele Unisono-Linien zusammen, da hat sich auch harmonisch viel getan.“

Und auch, wenn die Crooner-Trompete von Christoph Titz immer noch so manches Mal in Sinatras Anzug zu stecken scheint („Her Flowers“), spielt das Trio Titz / Jordi / Garrido mindestens auf Augenhöhe. So konnte er seinen starken Mitstreitern (sowie den von Ferne zuarbeitenden Volker Meitz an Orgel und Keyboards und Thomas Büchel an Baritongitarre und Modularem Synthesizer) seine Kompositionen schicken – „und einen Monat später waren wir wieder im A-Trane, wo wir zwei Tage lang von morgens früh bis spät nachts diese fünfzehn Songs aufgenommen haben. Da sind dann Sachen entstanden, von denen ich nicht weiß, ob die unter normalen Umständen auch entstanden wären.“

Die Pandemie, lässt sich festhalten, hat nicht nur dieser Platte gutgetan, sondern auch dem Künstler persönlich. „Es war eine Zeit“, reminisziert er, „in der man so vieles Revue passieren lassen konnte und auch die Zeit hatte, sich dem hinzugeben.“ Und Inspiration daraus zu ziehen. „Spazierengehen war ja das Einzige, was man konnte. Dabei habe ich gelernt, hochzugucken. Ich habe Fassaden entdeckt, wo ich denke: wow!“ Ohnehin gehe es beim Spazieren weniger um das Ziel als darum, „zu gucken, zu entdecken, nachzudenken“. Auch über die eigenen Gefühle, weshalb Titz schließlich auch dem Ende einer Liebe, das in diese Zeit fiel, etwas abgewinnen konnte: „Natürlich war das schwierig, aber ich möchte immer positiv darauf zurückblicken können und nicht so ein Anti-Gefühl entwickeln. Bei aller Melancholie freue ich mich, dass ich das erleben durfte.“

Für Christoph Titz wartet hinter jeder Ecke eben nicht nur Neues, sondern zumeist auch Schönes, aber mindestens „immer eine Überraschung“. Seinen Albumtitel möchte er deshalb auch am liebsten als „Sei offen für Überraschungen“ verstanden wissen, „und such auch ein bisschen danach, denn Glück kannst du herausfordern!“ Kein Wunder, dass der Closer „Corners and More“ nicht nur Bogenschluss, sondern gleichzeitig eine Einladung ist, über die Ecken Hinausgehendes zu entdecken.

Aktuelles Album:

Christoph Titz: Walking the Corner Vol. 1 & 2 (MarotyMusic / Distrokid)