Serdar Somuncu
© Paul Schirnhofer

Gastbeitrag

Corona tötet Kultur!

Corona nervt. Nicht nur diejenigen, die mit dem neuen Alltag der Maßnahmen hadern, sondern auch diejenigen, die um ihre zukünftige Existenz bangen. Aber wo stehen wir Künstler, die auf die Bühne müssen? Womit haben wir zu kämpfen? Wie sieht die Zukunft aus – und welche Auswirkungen hat unser Schicksal auf den Rest der Gesellschaft?

Von Serdar Somuncu

 

© Vasil Hadzimanov

Auf der einen Seite wirkt vieles normal. Die Realität 2.0 nach Corona hat schon längst begonnen. Schutzmaßnahmen und Vorsicht sind zwar weiterhin geboten, aber viele halten sich daran. Andere murren. Wenige verweigern sich. Die meisten können wieder ihrer Arbeit nachgehen, reisen oder ihr Bier in der Kneipe trinken. Die Medien jonglieren mit einzelnen Zahlen hin und her. Die Politik lobt ihre Bürger und vermittelt Zuversicht. Die große Panik, so scheint es, ist vorbei. Selbst Drosten, Hildmann und Co. scheinen die Lust am Weltuntergang verloren zu haben und machen Urlaub. Man hofft auf ein baldiges Ende des ausklingenden Albtraums. Wenn der Impfstoff und/oder ein Medikament gefunden werden, sind wir safe und alles geht weiter wie bisher. Daran halten wir uns fest.
Auf der anderen Seite geht fast unmerklich eine ganze Branche zugrunde. Schauspieler und Musiker sind der Perspektivlosigkeit ausgeliefert. Ihre Kreativität als Lebenselixier ist gelähmt, und manch einem geht sprichwörtlich die Puste aus, wie dem Gitarristen Stephan Ullmann, der sich vor wenigen Wochen das Leben genommen hat. Umso zynischer wirkt es, wenn die Spießer, die sich in den Kommentarspalten solcher Artikel gerne als Hüter der relativierenden Gerechtigkeit aufspielen, die leise vonstattengehende Katastrophe des Niedergangs nicht wahrhaben wollen und uns Künstlern suggerieren, dass wir unser selbstgewähltes Schicksal brav erdulden müssen, statt larmoyant unseren Untergang zu beklagen.
Die Realität sieht anders aus. Faktisch nämlich haben wir Künstler Corona weder bestellt, noch haben wir es verursacht. Dafür erdulden wir das einschneidendste Arbeitsverbot, das es je in unserer Geschichte gab. Während scheinbar systemrelevante Unternehmen wie die Lufthansa mit Milliarden vollgepumpt werden, reiche Konzerne wie Apple und Amazon weiter Reibach machen dürfen, müssen wir Künstler uns anhören, dass wir welt- und lebensfremde Hallodris seien, die doch gefälligst etwas Anständiges hätten lernen sollen. Offensichtlich führen wir in der Vorstellung mancher immer noch ein Leben in Saus und Braus und sind nur zu faul und zu gierig, um uns von den Pfründen zu lösen, die wir uns im Laufe der Jahre ergaunert haben.
Wenn dem so ist, dann schauen wir uns das Leben nach Corona ohne Kunst doch einmal genauer an: kein Kino, kein Theater, keine Comedy, keine Konzerte, keine Festivals, keine Opern, kein Zirkus und kein Varieté. Aber auch keine Podcasts, keine Hörspiele, Zaubershows, Lesungen und Kabarettabende, kein Ballett. Oder alles nur noch vorgesetzt und zum doppelten Preis. Und wem das zu teuer ist, für den gibt es Serien und TV-Sendungen nur noch als xte Wiederholung, und wenn live, dann als Stream mit miserablem Sound und schlechter Bildqualität. Dafür aber kostenlos und jederzeit.
Es ist an Unverschämtheit und Ignoranz nicht zu überbieten, wenn Menschen, die tagtäglich unsere Dienstleistungen wie selbstverständlich in Anspruch nehmen, uns jetzt vorwerfen, wir hätten lange genug wie die Maden im Speck gelebt, und uns dazu raten, zur Bescheidenheit zurückkehren oder auf Alternativen zurückzugreifen, die ihnen selbst den Konsum erhalten, uns aber finanziell ruinieren.
All diesen Leuten müsste man mal zumuten, auch nur einen einzigen Tag in der Ungewissheit zu leben, auf seine Intuition und sein Talent, sein Selbstvertrauen und seine Ausdauer angewiesen und seinen Selbstzweifeln ausgeliefert zu sein, die Hosen runterzulassen zu müssen, statt sich die Taschen vollmachen und davon leben zu können. Kein festes Gehalt am Monatsende, kein Krankenschein, wenn man Fieber hat, keine Altersvorsorge, keine automatische Absicherung durch Hartz IV – und trotzdem volle Steuern und Abgaben bei einer gesellschaftlichen Akzeptanz gleich null.
Wir Künstler sind die Nutten der Anspruchslosigkeit. Wenn man uns gebrauchen kann, werden wir benutzt und bejubelt, wenn man auf uns verzichten kann, werden wir beschimpft und belächelt. Irgendwie ist das, was wir tun, verrucht, aber ganz verzichten will man darauf auch nicht. Weil das, was wir für diese Gesellschaft leisten, doch elementarer ist, als man glaubt. Denn wir alle wollen auch lachen und weinen, wir alle wollen auch lieben und leiden. Vor allem aber wollen wir alle leben!
Schon jetzt liegen mehr als drei Viertel der Branche am Boden. Und auch die Zuschauer fragen sich, wie es weitergehen kann, ob Veranstaltungen verschoben oder abgesagt werden. Großverdiener und Profiteure wie der Ticketmonopolist Eventim halten mit Duldung des Gesetzgebers ihre Hand auf die Erlöse der bereits verkauften Karten. Die Künstler sind die Gelackmeierten.
Alarmstufe Kultur! Wenn nicht schon sehr bald eine Lösung gefunden wird, Veranstaltungen wieder stattfinden zu lassen, ist Schluss mit lustig und auch mit ernst. Denn dann werden wir nach Corona bei null anfangen müssen und können unsere Unterhaltung aus dümmlichen Konversationen in sozialen Netzwerken beziehen. Eine intellektuelle Auseinandersetzung über das, was uns bewegt, oder eine Verarbeitung unserer Ängste und Sorgen der Gegenwart, aber auch die Antwort unserer Dichter und Denker auf die Fragen der Vergangenheit werden wir dann vergeblich suchen. Denn dann sind wir nur noch ein Torso einer einst hochentwickelten Gesellschaft, die von der Hand in den Mund lebt und nicht vom Verstand in die Vernunft.