HÖRBUCHT

MUSENKÜSSE

In meinem Hinterhof singt keine Nachtigall. In meinem Hinterhof bellt ein Spanier. Quengelt ein Kind. Fallen Blätter. In meinem Hinterhof ist die Muse nie zu hören, geschweige denn zu sehen. Der Spanier ist ein alter Welterklärer, ein greiser Grantler mit dem lautstärksten Brustton seiner ganz eigensten sonoren Überzeugungen. Er bellt, brüllt, grölt, singt, weist zurecht, zieht und hackt Worte; meckert, stöhnt, jammert, jauchzt, krakeelt, frohlockt, reklamiert, hadert. Ohne Unterlass. Gesehen habe ich ihn noch nie, und die Muse fehlt mir mehr. Der Spanier muss viele offene Fenster haben, viel Familie und noch mehr Temperament, einen imposanten Kehlkopf und vielleicht sogar ein bisschen Tourette. Die Muse hat süße Füße, die ihren langen Beinen den letzten Pfiff geben. Süßer ist nur ihr Mund, ihr Lächeln mit den bezaubernden Grübchen. Die Augen strahlen, leuchten frech, herausfordernd. Die Muse kommt nicht durch den Hinterhof. Sie steigt anmutig durchs Treppenhaus, auf leisen Sohlen, wartet schmunzelnd, dass ich ihr die Tür öffne. Und dann küsst sie mich.

In der Hörbucht

Björn Simon

David Rothenberg

Stadt der Nachtigallen – Berlins perfekter Sound

Argon Hörbuch

3,5 Sterne

Ihr Gesang hat die Menschen schon immer fasziniert, nicht zufällig spielt sie in so vielen Kulturen eine wichtige Rolle in Mythen und Märchen. Die Nachtigall gilt als Vogel der Liebe und des Wehklagens und hat von Shakespeare bis Udo Lindenberg einen festen Platz in Literatur und Musik. Auch der New Yorker Jazz-Klarinettist und Philosoph David Rothenberg ist ihrem Zauber erlegen und reist seit dem Frühjahr 2014 regelmäßig nach Berlin, um mit Nachtigallen zu musizieren. Tatsächlich ist die deutsche Hauptstadt gleichzeitig so etwas wie die Hauptstadt der Nachtigallen. Obwohl die eher unscheinbaren Vögel sich vor allem in Gebüschen und Hecken und am Waldrand wohlfühlen und damit nicht gerade Stadttiere sind, finden sich Jahr für Jahr rund 3000 Exemplare in Berlin ein, mehr als in jeder anderen Großstadt.

Besonders fasziniert Rothenberg, dass der Gesang der männlichen Nachtigallen so ausdauernd und variantenreich ist wie bei keinem anderen Vogel, was für ihn darauf hindeutet, dass es ihnen neben dem Wunsch, Weibchen anzulocken, auch um die reine Freude am Musizieren geht. Dass sie bestimmte kehlige Klänge, auf die die Weibchen besonders stark reagieren, dennoch nur wohldosiert in ihren Gesang einstreuen, erklärt er mit einer Art dramaturgischem Gespür: „Wenn du die ganze Zeit sexy bist, wird es überhaupt keinen Appeal mehr haben.“

In Berlin hat der Klarinettist, der sich zuvor schon mit den Klängen von Walen und Käfern befasst hat, über die Jahre eine kleine Szene von Musikern um sich geschart, die sich dem unplanbaren musikalischen Dialog mit den Singvögeln stellen, darunter der Elektroniker Korhan Erel, die Sängerinnen Cymin Samawatie und Lembe Lokk und der Oud-Spieler Wassim Mukdad. Beispiele besonders gelungener musikalischer Begegnungen hat er auf dem Doppelalbum Nightingale Cities veröffentlicht. In seinem Buch Nightingales in Berlin beschreibt Rothenberg, was ihn anspornt: Er will Musik mit der Natur machen, um ein engeres Verhältnis zur Umwelt aufzubauen. Buch und Album hat die Regisseurin und Produzentin Vera Teichmann zu einem einstündigen Hör-Feature verarbeitet, das ein gutes Gleichgewicht findet zwischen informativen Passagen und Musikausschnitten, die den klanglichen Zauber des Zusammenspiels zwischen Mensch und Tier nachvollziehen lassen.

Mit Eva Mattes und Julian Mehne hat sie erstklassige Sprecher an Bord, was Fluch und Segen zugleich ist. Es ist ein Genuss, deren ausgefeilter Sprechkultur zu lauschen, gleichzeitig werden in Voiceover-Passagen der O-Töne von David Rothenberg selbst alltägliche Bemerkungen mit pseudo-literarischen Weihen überhöht. Ein wenig dick aufgetragen sind auch die Lobeshymnen auf Berlin als so weltoffene und tolerante Stadt, in der die Menschen kreativ sind und nicht ans Geld denken. Dennoch: eine kurzweilige Stunde, die sich schnell weghört und Appetit darauf macht, sich näher mit der Musik David Rothenbergs zu beschäftigen – und selbst einmal genauer hinzuhören, was da so alles in der Umwelt tschilpt und tiriliert.

Guido Diesing

Volker Jarck

Sieben Richtige

Argon

3 Sterne

Alles hängt mit allem zusammen“, lautet eine Basisphrase der Politikwissenschaften. Das scheint auch Volker Jarck in seinem Roman Sieben Richtige beweisen zu wollen, wenn er eine Vielzahl von Protagonisten, deren Schicksale sich durch einen Verkehrsunfall und viele private Verbindungen kreuzen, über Jahrzehnte begleitet. Sieben Richtige spielt hauptsächlich in Bochum, und obwohl es schön ist, dass Jarck sämtliche Pütt- und Fußballklischees des Ruhrgebiets auslässt, ist es nicht besonders überzeugend, dass Bochum bei ihm von Grafikdesignerinnen, Verlagsmitarbeitern, Schriftstellerinnen und Lehrern bevölkert wird. Ortskenntnis ist jedenfalls vorhanden, das beweisen eingestreute Details wie Bochum-Total-T-Shirts oder wo der 356er-Bus langfährt. Viel gravierender aber ist, dass die Verbindungen der verwirrend vielen Protagonisten derart immens sind, denn dafür sind es dann doch zu wenige. Irgendwann ist es einem schlicht egal, ob Tim, Marie, Linda, Eva, Viktor und Ronald – und das sind längst noch nicht alle Handlungsträger – miteinander vögeln. Jarck bringt jeder Person im Roman gleich viel Interesse entgegen, aber er schafft es nicht, einem die Beweggründe der Protagonisten oder deren einzelnen Charaktere nahezubringen. Man versteht einfach nicht, warum Marie ihren Ehemann Victor irgendwann nicht mehr leiden kann, Eva dafür umso mehr.

Der Grund dafür, warum man sich das dennoch gerne anhört, ist einzig und allein Christoph Maria Herbst. Der legendäre Stromberg-Darsteller ist ein begnadeter Vorleser, dem es ganz lässig gelingt, verschiedene Tonfälle zu treffen und Verzweiflung, Euphorie, Neugier, Genervtheit oder Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Er verpasst diesen Leuten, die Coldplay und Udo Jürgens hören, sich Der König der Löwen angucken und gerne auf Weichnachtsmärkte gehen – Jaja, die gibt es sicherlich, aber warum soll man sich für sie interessieren? –, jedenfalls eine Menge Leben. Vermutlich mehr, als diese Pappkameraden verdient haben.

Rolf Thomas