El Muro Tango
Nordische Leidenschaft
Während die einen derzeit alles daransetzen, Mauern zu errichten, setzen sich die anderen leichtfüßig darüber hinweg. El Muro Tango hebt nicht nur die Grenzen zwischen Menschen und Ländern auf, sondern enthebt zudem die Klassiker des Tangos ihrer zeitlichen Zuordnung. Die Musiker scheinen sich der Faszination des Gegensätzlichen verschrieben zu haben, wodurch Modernität und Tradition, Norden und Süden, Unkonventionalität und Formbewusstsein, Leidenschaft und Coolness keine Widersprüche mehr darstellen.
Von Doris Schumacher
Die Gründungsgeschichte des Ensembles ist ein modernes Musikmärchen: 2012 besucht der norwegische Geiger Karl Espegard einen Spanischkurs in Buenos Aires und verliebt sich in den Tango: „Kurz nachdem ich ankam, befreundete ich mich mit einer Gruppe von Tangotänzern und Studenten. Einige von ihnen waren auch Musiker, und wir nahmen zusammen Unterricht. Ich hatte meine Geige nicht mitgebracht, und so ging ich in den nächstbesten Musikladen und kaufte die billigste Violine, die ich finden konnte. Ich hatte sie immer dabei und spielte bei jeder Gelegenheit, auf Privatpartys und spontanen Zusammenkünften, in Cafés, bei Jam Sessions und Milongas. Es war eine sehr freie und befreiende Zeit mit viel Improvisation in der Musik und im Leben allgemein.“ Espegard beschließt, das geregelte Leben in Nordeuropa gegen die Freiheit des Künstlerlebens in Buenos Aires einzutauschen, zieht für ein Jahr nach Argentinien und wird Mitglied des Tango Ensembles Orquesta del Centenario, mit dem er durch Argentinien und Europa tourt.
2016 zieht der argentinische Pianist Juan Pablo de Lucca, Enkel des prominenten Tango-Sängers und Schauspielers Alberto Castillo, von Buenos Aires nach Hamburg. Auf der Suche nach anderen Musikern kontaktiert er über Facebook die norwegische Bandoneonistin Åsbjørg Ryeng, die mit dem mittlerweile nach Europa zurückgekehrten Karl Espegard ein Duo gegründet hat. Juan Pablo de Lucca: „Ich kam im November nach Oslo, wir probten im Trio und gaben anschließend drei Konzerte in Malmö und Oslo. Die Reaktion des Publikums war sehr gut, und auf persönlicher Ebene funkte es sofort zwischen uns. Wir arbeiteten weiter zusammen, und El Muro Tango wurde unser wichtigstes Projekt, mit dem wir Konzerte in ganz Europa spielen.“
Zu den drei Musikern kamen die Argentinier Sebastián Noya (b) und Juan Villarreal (voc, g). Letzterer hatte bereits mit dem namhaften Orquesta El Arranque zusammengearbeitet und gilt aktuell als einer der gefragtesten Tangosänger. Die argentinisch-norwegische Tango-Connection hat sich seither einen Namen innerhalb und außerhalb der europäischen und lateinamerikanischen Tango-Szene gemacht und nimmt Tänzer und Nicht-Tänzer gleichermaßen mit ihren zeitgemäßen Arrangements für sich ein. Beim norwegischen TV-Talentwettwerb Norway’s Got Talent stand die Band mit dem Tanzpaar Cyrena Drusine und Steinar Refsdal im Finale. Mit Nostálgico bringt das Ensemble eine Auswahl von Tangos heraus, die ihrerseits Geschichte geschrieben haben.
„Einige der Songs auf dem Album sind aus dem Repertoire meines Großvaters“, erzählt Juan Pablo de Lucca. „Ich habe sie sehr oft gehört und liebe die Art, wie er sie gesungen hat. Es ist meine Hommage an ihn. Ansonsten wählten wir Songs aus, zu denen wir eine spezielle Verbindung haben. Wenn es einen Text gibt, sollte es ein Thema sein, das uns anspricht und über das wir reden möchten.“ Tangos wie „Regin“ von Alfredo Rubín, „Recuerdo“ von Osvaldo Pugliese, „El Violín de Becho“ von Alfredo Zitarrosa oder der Candombe „Tamboriles“ von Romeo Gavioli erscheinen bei El Muro Tango in einem zwar neuen, aber der Tradition höchst respektvoll gegenüberstehenden Outfit. „Wir suchen ständig nach unterschiedlichen Arten, die Tangos zu spielen, die wir lieben. Wir behandeln die Melodien in einem mehr kontrapunktischen Stil, erweitern die harmonische Sprache und kombinieren die Tuttis und Solos in einer unkonventionellen Art und Weise. Die meisten der Tangos auf dem Album sind sehr bekannte Stücke, und der Hörer erkennt sie problemlos wieder, auch wenn wir uns vom traditionellen Weg entfernen.“
Nicht zuletzt die Internationalität der Besetzung von El Muro Tango macht den Tangogrößen der 20er und 40er Jahre alle Ehre, denn die Biografien der Komponisten und Interpreten selbst erzählen Geschichten des Auswanderns und Neuankommens. „Einer der Aspekte, der uns am Tango am meisten fasziniert, ist seine tiefe Verbindung zur Kultur. Wenn man Tangos aus den 40ern hört, kann man sehen, wie sie das Leben der damaligen Zeit reflektieren. Die Texte, die Art zu singen, die Coverdesigns, die Tanzform – sie alle geben ein Bild der damaligen Gesellschaft ab, ihrer Regeln und Mechanismen. In den 1940er Jahren war den Frauen eine Rolle innerhalb der Familie zugeschrieben, während die Männer bis zur Rente über Jahrzehnte hinweg der gleichen Arbeit nachgingen. Das alles hat sich verändert. Die Kultur verändert sich, und Populärkultur ist immer ein Spiegel von gesellschaftlichen Verhaltensmustern.“
Aktuelle CD:
El Muro Tango & Juan Villareal: Nostálgico (Galileo MC)