Emmanuel Witzthum: Verweile doch, du bist so schön!

Enjoy Jazz, Opernhaus Mannheim

© Schmott

© Schmott

© Schmott

Von Hans-Jürgen Linke. Zufall? Wer sich je mit John Cages künstlerischer Methode der Aleatorik auseinandergesetzt hat, weiß, dass Zufall eine Quelle von Kunst sein kann, aber nie die einzige. Es kommt immer darauf an, was jemand aus dem Zufall macht und was für Entscheidungen getroffen werden. Bei Emmanuel Witzthums Komposition Verweile doch, du bist so schön! waren mehrere Zufälle im Spiel. Ein bisschen zufällig ist es zum Beispiel schon, dass Witzthum – der unter anderem bei Pierre Boulez’ IRCAM in Paris sowie in Karlsruhe am ZKM gearbeitet hat – vor einigen Jahren beim Enjoy-Jazz-Festival in das international besetzte Gremium „Thinkers in Residence“ berufen wurde und dass Festival-Leiter Rainer Kern ihm einen Kompositionsauftrag im Rahmen der bundesweiten Feierlichkeiten 1700 Jahre jüdische Kultur in Deutschland gab.

Drei weitere Zufälle: Aus den Trümmern der im Zuge des November-Pogroms von 1938 zerstörten Mannheimer Synagoge hatte der Sohn des Kantors das Gebetbuch der Gemeinde gerettet. Die Familie nahm es mit auf ihrer Flucht nach Israel und übergab es der Gedenkstätte Yad Vashem. Dort fand Emmanuel Witzthum es bei seinen Recherchen für den Mannheimer Kompositionsauftrag. Und dann noch Faust, die deutscheste aller deutschen Dichtungen vom deutschesten aller deutschen Dichter. Vers 1700 darin lautet „Verweile doch, du bist so schön!“ Das ist keine Einladung, sondern markiert einen Schwellen-Moment: Faust bietet Mephisto diesen Satz als Formulierung für das Ende ihres Vertrages an: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / „Verweile doch! du bist so schön!“ / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehn.“ Stillstand und zufriedene Sattheit sollten also das finale Signal dafür sein, dass alles vorbei ist.

Goethes Satz enthält damit – sehr dialektisch – entgegen dem ersten Augenschein eher Verweise auf eine unstillbare Unruhe und vielleicht auch auf sehr düstere Vorgänge oder, wie Emmanuel Witzthum schreibt, „die Darstellung eines Moments in der Geschichte, in dem die Möglichkeiten des Bleibens wie des Gehens, zweier unterschiedlicher Welten, zugespitzt sind und jede Entscheidung eine dieser Welten zerstört.“ Dass diese Interpretation mit dem Thema 1700 Jahre jüdische Kultur in Deutschland verbunden ist, liegt auf der Hand. Für Witzthum enthält dieser höchst widersprüchliche Satz zugleich eine Erinnerung an die tiefe Widersprüchlichkeit, in der sich jüdische Kultur in Deutschland, 77 Jahre nach dem Ende des Holocaust, immer noch befindet.

Der Kantor der jüdischen Gemeinde Mannheim, Amnon Seelig, hat zwei Gebete aus dem Mannheimer Gebetbuch gesungen, Witzthum hat diesen Gesang aufgenommen und für seine Komposition elektronisch bearbeitet. Auf dieser Basis ist ein gut einstündiges Werk entstanden, das über einer elektronisch generierten Klangschicht notierte improvisatorische Passagen für zehn Musiker legt, deren Dauer oft durch Cues definiert wird, was eine Kooperation unter den Musiker*innen stiftet. Das Werk wurde in der Mannheimer Oper von zehn Musiker*innen des Ensemble Modern uraufgeführt.

Es gibt auch eine dramatische Komponente, die auf der Bühne sichtbar ist: Das Ensemble ist räumlich aufgeteilt in fünf Streicher*innen und fünf Bläser, in der Mitte sitzt der Komponist an seinem Spieltisch, der heute kein Orgel-Spieltisch mehr ist, sondern auf dem zwei Rechner stehen. Alle Musiker*innen sind mit einem warmen Gelb diskret eher an- als ausgeleuchtet, jede*r für sich, so dass sie sich in einer Doppel-Situation als Individuen und Gruppenzugehörige befinden. Die beiden Gruppen agieren zunächst weitgehend unabhängig voneinander. Sie folgen dabei aber gleichwohl einem gemeinsamen Plan, dem des Komponisten, und jede*r bleibt auf eine unübersehbare Weise ein Stück weit für sich – vielleicht ein Ausdruck des Umstandes, dass Gebete das musikalische Ausgangsmaterial des Werks bilden. Schließlich ist ein Gebet einerseits ein überaus intimer Vorgang, andererseits öffnet ein Gebet auch, um es emphatisch zu sagen, die Seele zum Kosmos hin.

Aber gerade das Gebet enthält auch eine implizite Forderung, nicht für sich zu bleiben, sondern sich zu einer Gemeinde zusammenzufinden. Das geschieht auf der Bühne, ohne dass die Sitzordnung sich verändert, auf rein musikalische, klangliche Weise. Bläser und Streicher*innen nähern sich im Verlauf des mehrteiligen Stücks einander an. Der breite Weg der elektronischen Tonspur liefert einen gemeinsamen Hintergrund, Überbau, Untergrund und eine Echokammer für alle – etwas wie den antiken Äther, eine immaterielle Substanz, die alles einbindet und umhüllt, ohne vordergründig-falsche Harmonie.

Eine Trennung findet schließlich aber doch statt: Am Schluss verlassen zwei Streicher*innen und drei Bläser, spielend und sich entfernend, den gemeinsamen Kreis und die Bühne: Das Ensemble hat sich aus seiner Arbeit heraus neu aufgeteilt. Zurück bleibt eine ebenfalls neu zusammengesetzte Ensemble-Hälfte. Dabei hätte man allen noch gern beim Verweilen zugehört und -gesehen.