Enjoy Jazz
Rhein-Neckar-Region
Von Frank Schindelbeck. „Weißt du, was mir fehlt?“ fragte ein Freund, und die Auflösung folgte sofort: „Der rote Teppich!“ Tatsächlich: Vor einigen Jahren wurde Besuchern des Enjoy-Jazz-Festivals vor fast allen Spielstätten der rote Teppich ausgerollt. Die 20. Ausgabe des „Festivals für Jazz und Anderes“ kam mit gewohnt opulentem Programm daher, aber mit wenig Jubiläums-Glitter. Ein sechswöchiges „All you can hear“-Festival mit rund 100 Veranstaltungen: Diskussionen, Workshops, Lesungen und über 70 Konzerte. 21.000 Besucher lauschten, auch in ungewöhnlichen Spielstätten – von der Blindenschule über das Bekleidungsgeschäft, der Burg in Neckarsteinach bis zum Nationaltheater Mannheim.
Für das musikpolitische Ausrufezeichen stand vor allem einer, der diese Ausrufezeichen schon seit Jahrzehnten immer wieder gesetzt hat: der 81-jährige Artist in Residence Archie Shepp. Der tummelte sich nicht nur mit sichtbarem Spaß im bassbetonten HipHop der Enkelgeneration bei der Anarchist Republic of Bzzz, sondern rührte bei der Livepremiere seines Albums Fire Music – 50 Jahre nach dessen Entstehung – einige Besucher so sehr, dass sie vom beeindruckendsten Konzert ihres Lebens sprachen.
Gesellschaftspolitische Ansätze zogen sich in vielen Formaten durchs Festival. Musikalisch waren die damit aufgeladenen Veranstaltungen nicht immer die überzeugendsten, denn Freiheit und Gleichheit schwang bei vielen Konzerten ohnehin so selbstverständlich mit, dass begleitende Belehrungen entbehrlich waren. Beispielhaft beim Black Earth Ensemble der Flötistin Nicole Mitchell, das eine im Afrofuturismus verwurzelte utopische Freiheitsgeschichte mit Verve zelebrierte. Aber auch bei der deutsch-tunesischen Beyond Borders Band, die ein aufwendig inszeniertes audiovisuelles Werk zu Fragen von Identität, Fremdheit und Völkerverständigung auf die Bühne brachte.
Einige Musiker gehören bei Enjoy Jazz praktisch zum Inventar. Jan Garbarek beispielsweise oder Joshua Redman, der mit James Farm den Jazz in der Alten Feuerwache Mannheim so zum Fliegen brachte, dass sogar Experten sich fast in einem Coltrane-Konzert wähnten. Herausragend gerieten die Konzerte ohne doppelten Boden: experimentelle Zusammentreffen ohne Absprachen. Magisches Zusammenspiel bei Mannheim-Beirut, dem Projekt von Gitarrist Claus Boesser-Ferrari, dem libanesischen Gitarristen Sharif Sehnaoui, Drummer Michael Zerang und Perkussionist Joss Turnbull (jüngst mit dem Kathrin-Preis ausgezeichnet). Zusammengehalten von einfachen Themen wie Mingus‘ „Canon“, mutierte deren Musik zu reinen Klangwolken, die langsam in Grooves übergingen und sich wieder auflösten ins Geräusch. Ähnlich spektakulär die Carte Blanche des Schlagzeugers Erwin Ditzner. Der darf alljährlich einmalige Enjoy-Jazz-Bands zusammenrufen. Diesmal ein Quartett mit dem virtuosen Vibrafonisten Christopher Dell, Saxofonist Tobias Delius und Sebastian Gramss am Bass. Wie in dieser Konstellation spontane musikalische Ideen ausgerollt, ins Spiel gebracht und im Kollektiv fortgesponnen wurden – das war die Essenz von Jazz. Inklusive dissonanter Reibung und individueller Virtuosität. Keine leichte Kost, aber auch Mut zur Zumutung zeichnet das Enjoy-Jazz-Festival aus.