European Jazz Conference

Tallinn

Kadri Voorand © Rene Jakobson

Von Angela Ballhorn. Schuhe aus, Filzpuschen an, so geht Funkkonzert im Club der verschiedenen Räume in Tallinn. Die Wohnzimmeratmosphäre tat der Tanzwut keinen Abbruch, die beiden Bands heizten ordentlich ein. Tallinn richtete in diesem Jahr die European Jazz Conference aus, und das Funk-Event mit Rita Ray und der Lexsoul Dancemachine war nur ein kleiner Ausschnitt des breit gefächerten musikalischen Rahmenprogramms.

Lexsoul Danc Machine © Rene Jakobson

Die Konferenz des European Jazz Networks mit 220 internationalen Delegierten (die meisten Festivalbooker, Promoter, Manager und Journalisten) aus 34 Ländern hatte als Überschrift das Ornette-Coleman-Zitat „The Shape of Jazz to Come“ – und die Zukunft mit allem, was mit Jazz zu tun hat, wurde nach möglichen Lösungen ausgeleuchtet. Die Pandemie hat nicht nur Musikern den finanziellen Boden unter den Füßen weggezogen, ihre Daseinsberechtigung infrage gestellt, sondern auch viele in Depressionen und den Burn-out getrieben.

Die Saxofonistin Maria Faust sagte gleich im ersten Podiumsgespräch, dass sie keine Saxofon-Soloalben mehr hören könne, weil gefühlt jeder im Lockdown ein Soloalbum aufgenommen habe. So muss nach einem Neustart gesucht werden, dazu gab es interessante Vorträge mit Schwerpunkten, wie die Programmgestaltung nach der Pandemie wieder aufgenommen werden kann, was für neue Möglichkeiten sich durch Streamingformate bieten oder welchen Stellenwert Podcast-Formate haben.

Mihkel Mälgand © Rene Jakobson

Alle waren sich einig, dass es zu echten Live-Konzerten letztendlich keine Alternative gibt. Und echte Konzerte und kurze Showcases gab es zuhauf zu erleben, Tallinn hatte aufgefahren, was in der estnischen Jazzszene Rang und Namen hat: eher konventionelle Programme wie Susanna Aleksandra (voc) oder die fantastischen Titoks, die mit ihrem Gipsy-Jazz ein erstaunlich junges Publikum zu Begeisterungsstürmen hinrissen, über das umwerfende A-cappella-Sextett Estonian Voices bis zum absolut innovativen, von György Ligeti beeinflussten Trio von Kirke Karja (p) mit Etienne Renard (b) und Ludwig Wandinger (dr).

Kristjan Randalu war mit einer sehr eigenwilligen Bearbeitung von Robert Schumanns Dichterliebe solo zu erleben. Für die Free Musketeers um Bassistin Mingo Rajandi war der 20-minütige Timeslot fast zu kurz, um die verrückte Mischung aus Poetry-Slam und freier Musik hochzukochen. Das Trio Heinz Herbert mit Dominic Landolt (g), Ramon Landolt (synth) und Mario Hänni (dr) aus der Schweiz war die einzige nicht-estnische Band. Das

© Rene Jakobson

Trio war vom European Jazz Network frisch mit dem Zenith-Preis ausgezeichnet worden.

Konsens der Konferenz – in Diskussionsgruppen, aber auch in kleinen Tischgesprächen – war, dass die Krise den Musikern Zeit im positiven Sinne gegeben hat und dass die Regierungen den Musikern Zeit kaufen sollten, damit ihnen ermöglicht wird, Musik zu kreieren. Viele der Aussagen waren schon in der Vergangenheitsform formuliert, und es wäre schön, wenn die Pandemiezeiten wirklich schon vorbei wären. Die nächste European Jazz Conference findet 2022 in Sofia, Bulgarien statt.

© Angela Ballhorn