Flat Earth Society
Rabenschwarze Revue
Die Flat Earth Society aus Belgien wäre ein heißer Kandidat auf den Titel des rebellischsten, witzigsten, provokantesten, eklektischsten, energiegeladensten Jazzorchesters der Welt. Passenderweise startete die Band mit einer Zirkusnummer – das war bereits 1997. Ihr neuester Streich: Boggamosta III, eine Zappa- und Sun-Ra-nahe HipHop-Jazz-Revue über die Verdummung in der digitalen Welt.
Von Hans-Jürgen Schaal
In Belgien hat sich die 15-köpfige Spaß-und-Risiko-Truppe rasch etablieren können: mit Theaterproduktionen, Rundfunkauftritten, Konzerttourneen. Ihre raffinierte Mischung aus Bigband-Tradition, Progrock-Kontrasten, Balkan-Gebläse, Zappa-Eklektik, Krimi-Feeling und Tango-Elementen riss das Publikum überall von den Sitzen. FES war 2002 die Hausband des Brügge-Festivals, präsentierte 2003 eine Bigband-Oper bei der Ruhrtriennale in Duisburg, ging 2011 erstmals auf US-Tournee. Man arbeitete über die Jahre mit namhaften Künstlern wie Uri Caine, Mike Patton, Ernst Reijseger, Jimi Tenor und Toots Thielemans und hat stolze 20 Alben veröffentlicht. So unberechenbar ihre Musik ist, so verlässlich ist die Qualität dieser Band.
Der Kopf und Motor hinter Flat Earth Society heißt Peter Vermeersch. Der 62-Jährige gilt als einer der „Paten“ der neueren belgischen Musikszene. Ursprünglich klassischer Klarinettist, profilierte er sich in den Neunzigern als Leader der Progrock-Band X-Legged Sally und als Produzent der Indie-Rock-Formation dEUS. Seit rund 20 Jahren, so schätzt Vermeersch, mache die Arbeit mit FES rund 80 Prozent seiner Aktivitäten aus. Denn für seine zahlreichen Theater- und Filmprojekte mobilisiert er mit Vorliebe diese Band.
„Vor der Pandemie zielten wir immer auf etwa 30 Auftritte pro Jahr“, sagt Vermeersch. „Mit einer Theatertournee erreicht man diese Zahl natürlich leichter, als wenn man Einzelkonzerte organisieren muss. Zu Beginn wollte ich einfach nur ein paar befreundete Musiker zusammenbringen und mit ihnen gemeinsam spielen. Es gab kein Konzept oder musikalisches Programm – nur die Musiker selbst mit ihren jeweiligen Vorlieben, Erfahrungen, Talenten und Defiziten. Wir halten die Maschine am Laufen, indem wir ständig neue Stücke komponieren, neue Ideen und Herausforderungen angehen und für Produktionen sorgen. Gleichzeitig haben wir eine prägnante, effiziente Finanz- und Organisationsstruktur aufgebaut. Außerdem werden wir von der flämischen Regierung und der Stadt Gent unterstützt.“
Eine von vielen Unternehmungen startete 2016. Peter Vermeersch und der Gitarrist David Bovée, der in den Anfangsjahren (bis 2003) Mitglied von FES gewesen war, erhielten den Auftrag, ein Bühnenprojekt mit Musikern aus Belgien und Gambia auf die Beine zu stellen. Die Sache wurde in Banjul (Gambia) erarbeitet und in Ostende (Belgien) aufgeführt – ein satirisches Performance-Spektakel mit sozialkritischen Texten und wild tobender Musik. Der Titel: Boggamosta – das Wort ist eine westafrikanische Adaption von „Bürgermeister“ („burgemeester“). „Danach überlegten wir, wie wir dieses Repertoire weiterentwickeln und erweitern könnten“, erzählt Vermeersch. „Es hatte einfach zu viel Spaß gemacht. Natürlich bot es sich an, das Material mit FES auszuarbeiten. Und so kam David wieder in die Band zurück.“ 2018 erschien das Projekt als FES-Album. Und es inspirierte Vermeersch und Bovée, weitere Stücke für dieses Performance-Konzept zu schreiben. So entstand Boggamosta III – die Nummer zwei sparte man sich einfach.
Mit den Boggamosta-Projekten scheint eine neue Phase in der FES-Geschichte zu beginnen. „Wir mussten für die Band einen neuen Sound und eine neue Bühnenpräsenz entwickeln. Wir brauchten eine heiße, groovende, pulsierende Atmosphäre, Gesang wurde wichtig, Elektronik kam dazu. Die Notenständer verschwanden, die Solisten gingen nach vorne – alles frontal zum Zuschauer.“ Den zehn neuen Songs auf Boggamosta III – fünf sind von Vermeersch, fünf von Bovée – liefert die Bigband eine ebenso rockende wie virtuose Basis. Solistische Highlights setzen u.a. Bruno Vansina (bar-s) und Peter Vermeersch (cl). Obendrein glänzen die Musiker der Band in jedem Stück als Vokalisten mit originellen Refrains und frechem Sprechgesang an der Grenze zum Rap. Boggamosta III ist eine fulminante, bizarre Bigband-Polit-Revue von überwältigender Energie. „Wir wollen ein anderes Publikum erreichen, nicht unbedingt die Jazzleute“, sagt Vermeersch. „Aber um diese Musik zu spielen, braucht man Musiker mit Jazzkönnen und Jazzhaltung. Und darum das FES.“
Die Songs der Revue geben ein düster-sardonisches Bild der aktuellen menschlichen Komödie zwischen Künstlicher Intelligenz und globaler Verdummung. Vermeersch sagt: „Die Texte sind in der Tat mit rabenschwarzer Tinte geschrieben. Sie sind eine Mischung aus den kranken Gedanken, die in den Köpfen verrückter narzisstischer Staatsführer gären, und einer sarkastischen Reaktion darauf. Es fühlt sich gut an, sich über diese junge Kreatur namens Homo sapiens lustig zu machen.“ Jetzt fehlt eigentlich nur noch eins: das Live-Publikum. Denn Boggamosta III gehört dringend auf die Bühne. „Die Pandemie zwang uns zu einer ziemlich komplizierten Übe- und Aufnahmemethode. Es waren nie mehr als fünf Leute im Raum – mit zwei Metern Abstand, Belüftung und mit Atemmasken, wenn man den Platz verließ. Es wird sehr aufregend für uns, wenn wir dieses Repertoire endlich im wirklichen Leben spielen können.“
Aktuelles Album:
Flat Earth Society: Boggamosta III (Igloo Records / Broken Silence)