FRANCO AMBROSETTI © Mariana Meraz

Franco Ambrosetti

Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker“

Balladen sind für Franco Ambrosetti etwas Besonderes. Vor allem, wenn Streicher beteiligt sind. „Ich liebe diesen Sound“, sagt er. „Er gibt einem Luft zum Atmen und Raum, um seine Gefühle auszudrücken. Das brauche ich, wenn ich Balladen spiele, vor allem, da ich ein Romantiker bin und tief in die Musik eintauche.“ Aus diesem Grund hat sich der 81-jährige Trompeter einen Herzenswunsch erfüllt und neben seiner vertrauten All-Star-Band ein junges 22-köpfiges Streicherensemble eingeladen, um sein neues Album Nora aufzunehmen.

Von Thomas Kölsch

Die Faszination für die nun gewählte Besetzung hat Ambrosetti inzwischen schon mehr als 60 Jahre lang im Griff. 1961, am Anfang seiner musikalischen Karriere in den Jazzclubs von Mailand, hatte sich der Schweizer vorgenommen, eines Tages mal mit Streichern aufzunehmen, so wie es schon Charlie Parker, Clifford Brown und Chet Baker vor ihm getan hatten. Die nötigen Freiheiten erspielte er sich in den 70er Jahren, in denen er unter anderem mit Cannonball Adderley, Michael Brecker, Mike Stern, Kenny Clarke und vielen Legenden des Bebop arbeitete.

„1979 hatte ich dann die Gelegenheit, meinen Traum wahr werden zu lassen, aber das Album ist nicht sonderlich bekannt geworden und hat meinen Hunger nicht gestillt“, sagt Ambrosetti. „Jetzt wollte ich es noch einmal wissen, vor allem nachdem ich erst ein Jahr zuvor mit Lost within You ein Balladenalbum aufgenommen hatte und trotz einer Traumbesetzung zwischenzeitlich an Geigen, Bratschen und Celli denken musste. Ich hatte mir ohnehin vorgenommen, weniger Konzerte zu spielen und dafür mehr aufzunehmen, weil in meinem Alter die Hektik des Tourlebens ihren Tribut fordert. Zum Glück hatte ich erst kurz zuvor Alan Broadbent kennengelernt, der unter anderem für Barbra Streisand und Shirley Horn arrangiert hat. Für dieses Projekt war er perfekt – ich kenne niemanden, der die Bedürfnisse eines Jazzquintetts und eines Streicherensembles besser ausbalancieren kann.“

Tatsächlich öffnet Broadbent mit seinen elegant-gefühlvollen Arrangements Räume, ohne diese sogleich mit geschichteten Klangflächen bis unter den Rand zu füllen. Gleichzeitig hält sich auch das Quintett zurück, auf das Ambrosetti schon seit Jahren vertraut und in dem mit John Scofield (g), Uri Caine (p), Scott Colley (b) und Peter Erskine (dr) wahre Meister ihres Fachs mitwirken. Jeder von ihnen könnte die Stücke mühelos dominieren, doch stattdessen belassen sie es bei dezenten Schattierungen und zarten Einwürfen, um die Balladen nicht zu ersticken – und um Ambrosetti den Raum zu lassen, den er für seine emotional aufgeladenen, ungeheuer intensiven Soli benötigt.

„Man braucht für diese Art von Musik keine schnellen Läufe, muss sich nicht technisch beweisen“, sagt der Grandseigneur des Schweizer Jazz, „aber man sollte schon einmal die Gefühle erlebt haben, um die es geht. Deshalb entdeckt man Balladen eigentlich auch erst im Alter, wenn man die Summe aller Erfahrungen in jeden einzelnen Ton hineinlegen kann.“ Was Ambrosetti nur zu gerne macht: „Ich habe eben ein romantisches Herz“, sagt er. „Ich überblicke natürlich die gesamte Melodie, aber ich habe keine Distanz zu ihr. Jede Note, die ich spiele, kommt aus meinem Innersten. Das macht Balladen für mich so persönlich. Gleichzeitig ist das der Grund, warum mich in diesen Momenten überhaupt nicht interessiert, was den Zuhörern gefallen könnte. Ich spiele diese Musik nicht für sie, sondern für mich.“

An der fragilen Schönheit der Aufnahme gibt es ohnehin keinen Zweifel. Ambrosetti, der inzwischen ausschließlich auf dem Flügelhorn mit seinem wärmeren Sound spielt, taucht tief in die Stücke ein und erlebt sie dabei mitunter völlig neu. „Ich habe zum Beispiel ,Autumn Leaves‘ bestimmt eintausend Mal gespielt, aber noch nie als Ballade“, sagt er. „Dabei hat dieses Stück eine beeindruckende Intensität, ist melancholisch und doch irgendwie leicht.“ Diese Mischung zieht sich wie ein roter Faden durch das Album, vom verträumten „Morning Song of a Spring Flower“ (mit einem feinen Scofield-Solo) über das schwelgende „Falling in Love“ bis hin zu John Coltranes „After the Rain“, das mit wenigen Noten ungeheuer viel erreicht. „Alan Broadbent hat dem Stück eine fast schon symphonische Qualität verliehen“, freut sich Ambrosetti. „Meines Wissens hat noch nie jemand diese Nummer mit Streichern aufgenommen, dabei bietet es sich doch geradezu dafür an. Ich wollte ,After the Rain‘ unbedingt auf dem Album haben, und ich habe diesen Wunsch nicht bereut. Ganz im Gegenteil: Die Aufnahme ist so viel besser geworden, als ich mir vorgestellt hatte.“

Und dann wäre da noch das Titelstück „Nora“. Vor etlichen Jahren hat Ambrosetti Musik für verschiedene Inszenierungen des Theater-Ensembles seiner Frau Ersilia geschrieben, unter anderem für Ibsens Nora oder Ein Puppenheim. Darin kämpft die Hauptfigur Nora Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Macht an, die Männer über ihr Leben haben – sowohl ihr Ehemann als auch ihr Vater behandeln sie als Besitz ohne das Recht auf Eigenständigkeit. „Für mich ist Liebe die zentrale Inspiration, wenn es um Balladen geht“, betont Ambrosetti. „Sie fließt in die Soli ein, sie ist der Motor unserer Seele. Wir glauben fest daran, dass Frauen in einer besseren Welt leben sollten als jener, die Ibsen skizzierte. Darum trägt dieses Projekt auch den Titel Nora.“

Aktuelles Album:

Franco Ambrosetti: Nora (enja / Edel:Kultur)