Franco Ambrosetti

Musik der langen Wellen

Franco Ambrosetti
© John Abbott

Trompeter Franco Ambrosetti zelebriert auf seinem neuen Album Long Waves mit langjährigen Weggefährten und neuen musikalischen Freunden kraftvolle Gelassenheit, er kann sich aber auch mal gehen lassen.

Von Ulrich Habersetzer

Gelassenheit strahlen diese Töne aus, eine innere Ruhe. Und doch – ein Feuer lodert in der Musik. Unter der Oberfläche verbirgt sich ein kraftvoll glühender Kern. Ob er sich ausdehnt, ob er sich Bahn bricht? Man weiß es bei den ersten Tönen noch nicht, aber der Kern ist spürbar da.

Franco Ambrosetti, Jahrgang 1941 aus Lugano, ist seit Jahrzehnten ein Meister der geschmackssicheren Gelassenheit, aber diesen funkelnden, energiegeladenen Kern trägt er immer mit sich, auch auf seinem aktuellen Album Long Waves. Es ist das 28. des Schweizers als Bandleader. Der Titel lädt gleich zum Philosophieren ein. Long Waves kann auf vielfältige Weise übersetzt werden, es ist unter anderem der englische Begriff für Dünung. Das sind Wellen, die von einem starken Wind auf dem Meer übrig bleiben und dann sogar Tausende Kilometer entfernt am Strand wahrnehmbar sind. Sie lassen vertäute Schiffe locker im Hafen schaukeln, können aber auch Vorboten eines starken Sturms sein. Gelassene Wellen, hinter denen große Kraft steckt, ein besseres Bild für Ambrosettis Spiel lässt sich wohl nicht finden.

Der Schweizer hat eine einzigartige Karriere hingelegt – oder besser zwei. So heißt auch seine 2018 erschienene Autobiografie: Zwei Karrieren – ein Klang. Er war Unternehmensleiter und erfolgreicher, international agierender Geschäftsmann, sorgte aber zugleich ab Mitte der 60er Jahre als herausragender Jazztrompeter für Aufsehen. 1966 gewann er in Wien einen internationalen Jazzwettbewerb, organisiert von Pianist Friedrich Gulda. Ambrosetti verwies Randy Brecker auf den zweiten und Claudio Roditi auf den dritten Platz. Vierter wurde Tomasz Stanko – was für ein Niveau!

Jahrzehntelang brachte Franco Ambrosetti die Leitung eines großen Unternehmens und die Bühnenkarriere eines Jazzmusikers unter einen Hut. Herrliche Anekdoten über das Trompete-Üben auf Geschäftsreisen gibt es da: Das klappt, ohne dass man die Zimmernachbarn im Hotel zu sehr stört, wenn man den Trompetentrichter zwischen die Kleidungsstücke im Kleiderschrank steckt, am besten mit Wintermänteln gefüllt, und den Fernseher als Grundrauschen dazu etwas lauter stellt.

Im Jahr 2000 verkaufte Ambrosetti seine Firma und widmet sich seither umfassender der Musik. Sie ist für den Schweizer große Vertrauenssache, und so hat er aus langjährigen Weggefährten, aber auch neuen Freunden sein Quintett für die Aufnahmesession im Januar 2019 in New York zusammengestellt. „Was die Gitarristen angeht, so war und ist mein Lieblingsgitarrist John Scofield, einer der bedeutendsten Gitarristen im Panorama des heutigen Jazz“, schreibt Ambrosetti in seiner Biografie. Dieser Lieblingsgitarrist mit seiner sofort erkennbaren Spielweise kommt auf Long Waves ausführlich zum Zug und liefert die sperrigen Gegenparts zu Ambrosettis geschmeidigen Flügelhornlinien.

Scofield lässt sich mitziehen vom Fluss der Stücke, gibt ihnen aber auch dank seines großartiges Gestaltungsvermögens und -willens immer wieder neue Richtungen. Seine Improvisationen erfolgen oft als Kommentar zu Ambrosettis Vorgaben. Wie die beiden gemeinsam Themen gestalten, lässt immer wieder aufhorchen. Wenige Töne, starke Schattierungen, knisternde Kontraste, und sofort entsteht Spannung. Die beiden hören sich gerne zu beim Ausformulieren ihrer Melodie-Ideen, das spürt man.

Auch Pianist Uri Caine gehört schon länger zum Freundeskreis Ambrosettis. Seit 2006 arbeiten beide immer wieder zusammen. Der Trompeter schreibt in seinem Buch, Uri Caine sei ein „lebhafter, ironischer und provokanter Pianist“. So präsentiert er sich auch auf Long Waves. Caine steuert teilweise quirlig-perlende, teilweise sperrig-expressive Soli bei. Er steigert, wo immer es geht, steckt die anderen an und fällt immer wieder wohltuend aus der allgemeinen Gelassenheit heraus. Bestes Beispiel: „Silli‘s Long Wave“, dessen Titel sich auf die geschwungenen langen Locken von Ambrosettis Ehefrau Silli bezieht. Das Stück beginnt mit sanft gehauchten Flügelhorntönen und endet in einer intensiv-verwobenen Gruppenimprovisation, an der Uri Caine großen Anteil hat.

Solche Glanzpunkte hat jeder der Beteiligten. In „One for the Kids“ von Pianist George Gruntz, Ambrosettis langjährigem Freund und musikalischem Begleiter, darf Schlagzeuglegende Jack DeJohnette „fliegen“. Mit diesem Wort beschreibt Ambrosetti den Stil des Drummers, und dessen markante, eckige Wirbel rumpeln hier zum Second-Line-Beat besonders gelungen. DeJohnette an die Seite wurde der Edel-Tieftöner Scott Colley gestellt, ein Bassist, der mit wenigen Power-Tönen für ein unumstößliches Fundament sorgen kann und genau der Richtige ist, um die Erdung der anderen vier sicherzustellen. Noch dazu einer, der ganz dem Gelassenheitsprinzip treu bleibt.

Eine Dreamband mit US-Stars hat sich Franco Ambrosetti für Long Waves gegönnt, und in diesem Umfeld scheint sich der 77-Jährige äußerst wohl zu fühlen. Seine vier Eigenkompositionen, die beiden Standards „Old Folks“ und „On Green Dolphin Street“ sowie George Gruntz‘ „One for the Kids“ sind konventionell aufgebaut, aber das lustvolle und ergebnisoffene Miteinander der fünf Musiker machen das Album zu einem Hörgenuss. Gelassen, aber tiefgründig aufregend. Lange Wellen haben einfach Kraft, das weiß Franco Ambrosetti.

Aktuelle CD:

Franco Ambrosetti: Long Waves (Unit Records / Membran)