HÖRBUCHT
COMING OF AGE
School’s out for … ever? Adoleszenz und westliche Initiationsriten liegen irgendwo zwischen einem Twisted-Sisters-Video und dem Club der toten Dichter verborgen, zwischen Breakfast Club und jenem Catcher in the Rye namens Holden Caulfield. Ferris Bueller, der Coole von der Schule, taugt blaumachend ebenso als Role Model für Teenager wie Molly Ringwald für Millionen Mädchen, pretty in Pink und très tschick dirty dancend. Crazy. Abschlussbälle sind den Amerikanern so wichtig wie Road-Trips den Deutschen and vice versa, absolute Giganten bestellen im Burgerladen routiniert „Einmal ALLES“ als Soulfood für die Nacht der Nächte, und da wird ALLES schon mal zwingend großgeschrieben und die Musik zum Soundtrack des Lebens. „Es müsste immer Musik da sein!“, wünscht sich der Erzähler aus dem Off. – Und Computerspiele. Und Klima. Klima müsste auch immer da sein. Und WLAN! Und AKKU! Wünschen sich Generationen junger Menschen und Junggebliebener noch dazu. Wünschen hilft.
Wir wünschen uns mal wieder den Weltfrieden!
In der Hörbucht…
Björn Simon
Tonio Schachinger
Echtzeitalter
Argon
5 Sterne
Die Gaming-Industrie setzt allein in Deutschland Millionen um. Umso erstaunlicher ist es, wie selten sie Thema in zeitgenössischer Kunst und Kultur ist. Dem hat der Schriftsteller Tonio Schachinger mit seinem Roman Echzeitalter, für den er den Deutschen Buchpreis 2023 bekommen hat, ein Ende gesetzt. Sein Protagonist Till Kokorda, Schüler in einem elitären Wiener Internat, ist schon mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, denn er ist der jüngste Top-Ten-Spieler des Echtzeit-Strategiespiels Age of Empires 2 der Welt. Schachinger erzählt seine Coming-of-Age-Geschichte zwischen Gaming und der Klassikerlektüre in der Schule, die von einem antiquierten und despotischen Klassenlehrer dominiert wird. Kokorda kann weder mit dessen Kanon noch mit seinem snobistischen Umfeld viel anfangen, er sucht die Freiheit an seinem Laptop und muss sich dabei gegen flammende Traditionalisten behaupten.
Schachinger hat eine Geschichte voller überraschender Wendungen konstruiert, die mit ihrem uneitlen Humor heftig an Der Fänger im Roggen erinnert – auch Holden Caulfield fühlte sich unverstanden und sein „Sleep tight, ya morons!“ wird jedem, der den berühmten Salinger-Roman je gelesen hat, ein Leben lang in den Ohren klingen. Warum nur ist die Welt der Erwachsenen so langweilig? Das fragt sich wohl irgendwann jeder Teenager, der Interessen nachgeht, denen die Erwachsenen wiederum mit Unverständnis begegnen.
Der Münchner Schauspieler Johannes Nussbaum, der in Fack ju Göhte 2 und der sarkastischen Fernsehserie Vorstadtweiber zu sehen war, liest Echtzeitalter mit lässiger Nonchalance und setzt die Pointen der Geschichte gekonnt und präzise. Nussbaum, der im niederösterreichischen Mödling geboren wurde, ist seit vier Jahren festes Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater, schätzt den amerikanischen Schriftsteller Hunter S. Thompson und hat auch eine Wohnung in Berlin. Neben der österreichischen Romy in der Kategorie „Bester Nachwuchsschauspieler“ erhielt er außerdem den Alfred-Kerr-Darstellerpreis beim Berliner Theatertreffen und im vergangenen Jahr den Bayerischen Kunstförderpreis. In der Krimireihe Steirerkreuz, -wut und -tod ist er als jugendlicher Freund der Kommissarin zu sehen. Auch dort feiert ein makabrer schwarzer Humor fröhliche Urständ’.
Rolf Thomas
Franziska Walser / Edgar Selge
Jeder Engel ist schrecklich
Argon
4 Sterne
Wer immer an den einarmigen Münchner Kommissar denkt, wenn er die Stimme von Edgar Selge hört, hat zu viel Fernsehen geguckt. Auf zwei CDs liest der Schauspieler hier zusammen mit der Schauspielerin Franziska Walser – seiner Ehefrau – die berühmten Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Wobei die beiden Wert darauf legen, dass sie nicht lesen, sondern „frei rezitieren“. Rilke ist einfach nicht totzukriegen. Loriot zitierte ihn in einem berühmten Sketch hoch über den Wolken („Mein Schwager schreibt auch Gedichte“), so manchem gilt er als verschmockt – und doch verkaufen sich Rilkes Elegien, obwohl vor über 100 Jahren entstanden, immer noch. Wer mit Zeilen wie „Wohin sind die Strahlen Tobiae?“ allerdings nichts anfangen kann, der wird es schwer haben bei diesem Hörbuch. Zwar lesen Walser und Selge sehr engagiert und lebendig, aber der Sinn, nun, der Sinn erschließt sich bei Rilke eben oft nicht auf Anhieb, manchmal sogar nie.
Rilke behauptete, dass er den Anfang des ersten Gedichts diktiert bekam. Er war im Januar 1912 zu Gast auf Schloss Duino an der Adriaküste bei der Fürstin Marie von Thurn und Taxis (nicht verwandt mit der heutigen Nervensäge Gloria, die hat ja nur eingeheiratet). Bei einem Spaziergang war ihm plötzlich so, „als ob im Brausen des Sturmes eine Stimme ihm zugerufen hätte: ‚Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?‘“ So habe Rilke es ihr berichtet, erzählt die Fürstin. Rilke-Verächter werden nun sagen, dass das ja wohl der Gipfel der Prätention sei, die anderen nennen es schlicht Inspiration. Flugs schrieb Rilke die ersten beiden Elegien nieder. Danach aber kämpfte er lange um deren Vollendung, die ihm erst zehn Jahre später im Wallis gelang. Das Schöne und das Schreckliche – nämlich die Sprache und die Engel gegen die Naturgewalten von Sturm und Brandung – verbinden sich so in den Elegien, denn Kunstwerke, so Rilke, seien „immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins“. In den weiteren Elegien geht es um Sex und Tod – oder, vornehmer ausgedrückt, um Eros und Thanatos –, und Rilke selbst fand, dass man sie nicht lesen, sondern sprechen sollte. Wer sich den verrätselten Gedichten also nähern will – hier ist eine gute Gelegenheit.
Mirela Onel