HÖRBUCHT

HALTET DIE PAPPEN!

Nein, haltet nicht eure Pappen im österreichischen Sinn, seid laut. Das ganze Gegenteil von „Hoid dei Bappn!“ (Halt’s Maul!) ist gewünscht. Die Pappen mit dem ganzen Unwillen gegen rechts, haltet sie hoch, mit der kunterbunten Vielfalt an Meinungen, Parolen, Mottos. Nie waren Sprüche, Bilder und Memes so wichtig, um einen Kampf zu gewinnen um die Demokratie, die es zu schützen und zu verteidigen gilt mit Brandmauern aus Menschen, die an den Wochenenden dafür auf die Straßen gehen. Gegen Rassismus. Gegen rechts. So oft, wie es sein muss. Nie wieder ist jetzt.

Gerade auch in der Hörbucht…

Björn Simon

PS: Als sensible Einsiedlerin hätte Emily Dickinson wohl an keiner Demonstration teilgenommen – sie hätte online mitgemacht…

Kai Grehn

Mögen Sie Emily Dickinson?

Zweitausendeins / Broken Silence

4,5 Sterne

Sie bleibt auch mehr als 140 Jahre nach ihrem Tod eine der großen rätselhaften Figuren (nicht nur) der amerikanischen Literatur: Emily Dickinson lebte ihr ganzes Leben in ihrem Geburtsort Amherst, Massachusetts – in ihren späteren Jahren völlig zurückgezogen, verließ sie kaum einmal das Haus, verkehrte überwiegend schriftlich mit ihren Freunden und legte ihren Briefen bisweilen selbstgeschriebene Gedichte bei. Die Angaben, wie viele von diesen zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurden, schwanken zwischen sieben und zehn, nach ihrem Tod aber wurden in Dickinsons Nachlass fast 1800 poetische Texte gefunden, kurze Sinnsprüche ebenso wie mehrstrophige Gedichte. 77 von ihnen hat Kai Grehn ausgewählt und in neuen, selbst angefertigten Übersetzungen für sein Hörbuch Mögen Sie Emily Dickinson? bearbeitet und mit Briefpassagen, Musik und Klangcollagen verbunden.

Der mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2023 ausgezeichneten Aufnahme gelingt es spielend, den Hörenden die vermeintlich entrückte und kaum greifbare Dichterin nahezubringen. Birgit Minichmayr trägt die Texte zurückhaltend, intim, oft nah am Mikrofon fast flüsternd vor und trifft die Poesie der Gedichte ebenso gut wie den milden, oft lakonischen Humor, der insbesondere in einigen Briefen aufscheint: „Mit großem Bedauern teile ich ihnen mit, dass mein Verstand gestern Nachmittag um 15 Uhr zum Stillstand gekommen ist, ohne sich seither rühren zu wollen.“ Dickinsons Themen sind Spiritualität, Liebe und Tod, auch Alltägliches, vor allem aber die Natur. Ihre Gedichte sind bevölkert von Vögeln, Schmetterlingen und Bienen, was Kai Grehn treffend aufgreift, indem er die Rezitationen mit stimmungsvollen Naturgeräuschen, geheimnisvollen Tierlauten und Windesrauschen untermalt.

Mit dem Schwesternduo CocoRosie, das dem Weird- oder Freak-Folk zugerechnet wird, hat Grehn eine Idealbesetzung für die musikalische Umsetzung gefunden. Sierra und Bianca Casady, erfahren in spartenübergreifenden Projekten, steuern untermalende Klanglandschaften bei und verwandeln einzelne Gedichte in elektronisch angereicherte Lieder zu Klavier, Orgel, Synthie oder Toy Piano, etwa das bekannte „Hope Is the Thing with Feathers“.

Das Hörbuch ist auch äußerlich sehr ansprechend gestaltet. Das Buch zur CD im DIN-A5-Format ermöglicht – mehrfach aufgeklappt –, die Texte parallel im Original und in der Übersetzung zu lesen. Wenn DIN A5 nicht eckig wäre, könnte man das Ganze völlig zu Recht als runde Sache bezeichnen. Und nachdem die Frage, die dem Hörbuch den Titel gibt, nach dem Hören für die Meisten beantwortet sein sollte, stellt Emily Dickinson selbst eine Frage zum Wesen der Poesie, die zwar rhetorisch ist, aber dennoch zum Weiterdenken anregt: „Wenn ich ein Buch lese, und mir wird davon am ganzen Körper so kalt, dass kein Feuer mich mehr wärmen kann, weiß ich: Das ist Poesie. Wenn mir ist, als würde mir buchstäblich die Schädeldecke entfernt, weiß ich: Das ist Poesie. Nur so erkenne ich sie. Gibt es andere Möglichkeiten?“

Guido Diesing

Eva Menasse

Alles und nichts sagen

tacheles! / roof

3 Sterne

Das Internet – Fluch oder Segen? Unter dieser Überschrift könnte dieser von Eva Menasse selbst vorgelesene Besinnungsaufsatz stehen – sie liest übrigens sehr langsam. Damit jeder mitkommt? So schwierig sind ihre Gedanken jedenfalls nicht, dass man sich nicht dauernd wünscht, ein hastig nuschelnder Sven Regener würde uns Alles und nichts sagen vorlesen – der hätte das in der halben Zeit geschafft.

Frühe Web-Euphoriker wie Sascha Lobo – vor Jahren sah er durch das Internet eine Ära immerwährender Freiheit heraufdämmern, die sämtliche Diktaturen der Welt zusammenbrechen lassen würde – gelten komischerweise immer noch als Netz-Experten, obwohl sich sämtliche ihrer Prophezeiungen als geradezu grotesk falsch erwiesen haben. Lobo lächelt das einfach weg, und außerdem hat er ja eine originelle Frisur, da lädt man ihn gern ins Fernsehen ein. Eva Menasse sieht das Internet natürlich finster, wie es sich heutzutage gehört. Vor allem die sogenannten Sozialen Medien hätten „Diskussionsregeln“ eingeführt, die Politik und Journalismus mit ihrem Irrationalismus und ihrer ätzenden Skepsis bereits angesteckt haben. Da ist sicher etwas Wahres dran, man muss sich ja nur in Erinnerung rufen, wie schnell heutzutage Personen des öffentlichen Lebens durch irgendeine Dämlichkeit, die sie auf TikTok oder X geäußert haben, in Ungnade fallen. Was Lobo & Co. also noch optimistisch gesehen haben – das Internet wird die Welt in eine Demokratie verwandeln –, sieht Menasse genau umgekehrt: Das Internet wird den liberalen Demokratien den Boden wegziehen, auf dem sie im Moment noch stehen. Menasses Forderung allerdings, mehr Internetkompetenz in der Bildung zu vermitteln, kann man sich nur anschließen.

Letzten Endes aber sind Optimisten genauso schwer zu ertragen wie Untergangspropheten. Ich möchte mich nicht auf die banale Weisheit zurückziehen, dass die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte liegt, aber auf die Vorteile des Internets wird man ja wohl noch hinweisen dürfen: Menschen können sich dort schnell informieren, schnell verabreden und schnell miteinander kommunizieren – das alles können gute und böse Menschen nutzen (siehe die AfD und ihr berüchtigtes Remigrations-Treffen). Den kulturellen Verfall hat man auch schon der gedruckten Zeitung, dem Radio, dem Kino, dem Fernsehen und dem Privatfernsehen (ungefähr in dieser Reihenfolge) zum Vorwurf gemacht. Das hat die Cassandras dieser Welt aber noch nie gestört.

Rolf Thomas