HÖRBUCHT

ZUM KOTZEN

Für die Spucktüte, nicht als Ideensammlung, Scribble, Tourtagebuch und Co., sondern im wahrsten Sinne des Wortes – zum Würgen, Speien, Erbrechen und Kotzen:

sich als Alternative für Deutschland zu bezeichnen und dann nichts, aber auch überhaupt nichts mehr für Deutschland zu bieten zu haben außer abgefeimtestem Populismus im Nazi-Sprech mit (Un-)Worten wie Remigration, völkisch und Lösung im schlechtesten Sinne

wenn das „Pulverfass Nahost“ wirklich explodiert

Putin.

dass Larry David mit der allerletzten Folge seiner Serie Curb Your Enthusiasm die allerletzte Folge seiner Serie Seinfeld nicht nur aufs Vorzüglichste gespiegelt und übertroffen hat, sondern dass es auch nie wieder neue Folgen geben wird, also NIE WIEDER

Trump.

wenn der Haushalt deines Landes permanent auf Kante genäht ist

zu wenig Munition an die Ukraine liefern zu können

wenn dein eigener Haushalt permanent auf Kante genäht ist

Wahlkampf in Thüringen

wenn die Katze mal wieder den Mageninhalt entleert

keine diplomatischen Lösungen in Aussicht zu haben

Enrico Palazzo singt die US-amerikanische Hymne

wenn „früher war alles besser“ sich wie die ganze Wahrheit, die unironische Wahrheit anfühlt

Unwohlsein im Flieger

wenn Listen zu lang werden, gerade auch in der Hörbucht…

Björn Simon

Kai Grehn

Nick Cave – The Sick Bag Song

Zweitausendeins

4,5 Sterne

Es läuft blendend für Kai Grehn. Nachdem im vergangenen Jahr Mögen Sie Emily Dickinson? vom Hessischen Rundfunk als Hörbuch des Jahres geehrt wurde (siehe JAZZTHETIK 03/04-2024), konnte der Berliner Regisseur und Autor jetzt für das Nachfolgewerk The Sick Bag Song den Deutschen Hörbuchpreis entgegennehmen. Es ist die Umsetzung des bereits 2015 erschienenen gleichnamigen Buchs von Nick Cave und trägt den Untertitel Ein langes Liebeslied in Zeitlupe. Der Titel (Deutsch: Das Spucktütenlied) bezieht sich auf die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte von Caves Texten. Mit den Bad Seeds auf USA-Tournee, notierte der australische Sänger auf den Flügen zwischen den Konzerten Gedanken und Erinnerungen auf den bereitliegenden Kotztüten. So entstand eine Mischung aus Tourtagebuch und Bewusstseinsstrom, in der sich beispielhaft Caves Meisterschaft zeigt, Alltagsbeobachtungen und flüchtige Gedanken mit tiefschürfenden und bedeutungsschweren Grübeleien zu vermengen. Er beweist hier wieder einmal seine über Jahrzehnte perfektionierte Fähigkeit, mit einer selbst erschaffenen überhöhten Kunstfigur zu verschmelzen und im gleichen Moment authentisch und nahbar zu erscheinen.

Man braucht nicht lange, um zu verstehen, dass es hier um den künstlerischen Schaffensprozess an sich geht: Die Spucktüte, vordergründig Behältnis für Erbrochenes und Essensreste, nimmt in sich auf, was der Künstler zuvor in sich aufgenommen und halb verdaut hat. Die Hauptthemen Kunst und Tod scheinen gleich im ersten Bild auf: Ein zwölfjähriger Junge steht auf einer Brücke und spielt mit dem Gedanken zu springen – die Szenerie taucht im Laufe des Buchs mehrfach wieder auf, Symbol für den drohenden Tod ebenso wie für die Bereitschaft des Künstlers, sich ins Ungewisse zu stürzen, kühn den ersten Schritt zu tun, auch wenn er dafür die harten Beurteilungen derer ertragen muss, die den Sprung nicht gewagt haben: „Sie werden dasitzen und sagen: ,Dieser Verräter, dieser verdammte Poser. Seht ihn euch an, wofür hält der sich?‘ Aber das alles bist du nicht. Du bist ein wunderbarer Springer, ziehst Bänder der Freude und Dankbarkeit um eine grenzenlose Sonne.“

Auf einer Metaebene thematisiert Cave den kreativen Schaffensprozess ein weiteres Mal, indem er immer wieder Listen von Prokrastinationsgründen einschiebt, die von Mal zu Mal abwegiger werden: vom Aufschieben aus Angst, Perfektionismus und Unentschlossenheit bis hin zum Aufschieben wegen Handamputation, Vampirismus und Enthauptung, nicht zu vergessen das selbstironische „Aufschieben wegen Erstellens unnötiger Listen“. Den Blick hinein in Caves Kopf, von Musen und Engeln bevölkert, die ihm tiefsinnige und bedenkenswerte Dinge einflüstern, gestaltet ein erstklassig besetztes Sprecherensemble mit Alexander Fehling und Paula Beer sowie der großartigen schottischen Schauspielerin Tilda Swinton, die als Interpretin des Folksongs „The Butcher’s Boy“ auch als Sängerin überzeugt. Ergänzt durch Lars Rudolph an der Trompete, steuert das Berliner Elektronikduo Tarwater Musik bei, die die Wirkung noch verstärkt. Glücklich, wer bei der Planung seiner Projekte nicht nur gute Konzepte, sondern auch ein Adressbuch mit solchen Könnern in allen Sparten hat.

Guido Diesing