HÖRBUCHT
HUNDSTAGE
Das absolute Nichtstun ist die allerschwierigste Beschäftigung und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt. (Oscar Wilde) Das erklärt, warum es Donald Trump so schwerfällt – warum da jeden Tag Aktionismus auf der Tagesordnung steht, unser täglich Dekret gib uns heute, bis die ganze Welt am Rad dreht. Aber das ist ein anderes Thema. Hier soll es diesmal um die Hundstage gehen, die heißen Tage vom 23. Juli bis zum 23. August, nicht um das gleichnamige Buch des Mecklenburgers Walter Kempowski. Dann steht die Sonne in der Nähe des Sirius, des sogenannten Hundssterns. Womit wir doch wieder beim Nichtstun wären, dem Besten an heißen Tagen. Und uns wieder im Kreis drehten. Aber mit Geist. In der Hörbucht…
Björn Simon
Uwe Johnson
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Ungekürzte Lesung mit Charly Hübner und Caren Miosga
DAV
5 Sterne
Uwe Johnsons Jahrestage ist ein Jahrhundertroman. Und: deutsche Weltliteratur. Wem das zu dick aufgetragen erscheint, der kann diese Behauptung auch mit einer vollständigen Hörbuchfassung des mehr als 1700 Seiten langen Werkes überprüfen, eingelesen von dem Schauspieler Charly Hübner und der ARD-Moderatorin Caren Miosga.
Um zu begründen, warum wir dieses Hörbuch für einen Glücksfall halten, sei uns ein kurzer Rückblick gestattet. Am 20. Oktober 1983 liest in München ein Autor, dem in diesem Herbst alle wichtigen Feuilletons lange Beiträge, meist Elogen, widmen. Darin geht es um Uwe Johnsons soeben vollendeten Roman Jahrestage, in dem die als Fremdsprachensekretärin einer Bank in New York City lebende Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie über ein Jahr hinweg, vom August 1967 bis zum August 1968, die eigene Familiengeschichte erzählt: vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nationalsozialisten, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und in den ersten Jahren in der DDR. Und eben dieser Uwe Johnson sitzt nun also im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse, von der er sich eine massive Erkältung mitgebracht hat, auf dem Podium im Gemeindesaal einer Schwabinger Kirche, vor sich ein Glas Wasser, das er nicht anrühren wird, unter dem Tisch die Knie eng aneinandergepresst, die Füße auf den Zehenspitzen. Bevor die Autorenlesung beginnen kann, muss Johnson noch eine zwar längliche, aber ebenso kenntnisreiche wie wohlmeinende Einführung über sich ergehen lassen, an deren Ende – als wäre das ein geplanter dramaturgischer Höhepunkt – die Kirchenglocken läuten, was Johnson mit feiner Ironie aufzunehmen weiß. Als der Autor dann schließlich zu lesen beginnt, sitzt im Publikum auch ein junger Mann, der zwar Johnsons erstes publiziertes Buch, Mutmassungen über Jakob, interessiert gelesen hat, die Sprache des Autors aber sperrig findet und nicht sicher ist, ob er sich auch die vielen Jahrestage-Seiten noch „antun“ soll. Doch was der schwer erkältete Autor da auf dem Podium liest, nimmt im Vortrag schnell eine solche Farbigkeit, ja Lebendigkeit an, dass der junge Mann diese ganz eigene Sprachmelodie nicht mehr aus den Ohren bekommen und hinfort alles, was er von Uwe Johnson liest, stets mit dessen Stimme im Kopf lesen wird.
Genau das aber ist das Problem. Wie soll denn irgendjemand anderes als Uwe Johnson seine Texte so lesen können wie er selbst? Womit wir zu dem eingangs erwähnten Glücksfall kommen. Zum Wesen des Glücks gehört es ja, dass es sich nicht erklären lässt. Folglich haben wir auch keine Ahnung, wie genau Charly Hübner und Caren Miosga das nun machen. Aber es ist einfach so: In ihren Stimmen breitet sich der ganze Kosmos dieser hinreißend eigenständigen, auch die Zeit des Vietnamkriegs und der Studentenproteste vergegenwärtigenden Literatur vor den Hörenden aus. Und zwar auf eine Weise, dass man sich diesen Kosmos – ähnlich wie damals der junge Mann nach der Autorenlesung in München – gar nicht mehr anders gelesen vorstellen möchte. Dabei wird es von Vorteil sein, dass Charly Hübner als gebürtiger Mecklenburger mit dem Sprachduktus des Autors bestens vertraut ist und auch die zahlreichen eingestreuten Dialektpassagen so natürlich sprechen kann, wie Johnson selbst sie gesprochen hätte. Mit Caren Miosga ein Dreamteam bildend, gelingt den beiden ein „Sprachkunstwerk […], dessen innere Spannung einen nicht mehr loslässt“ – so die treffende Beschreibung der Jury, die die ungekürzt knapp 74 Stunden lange, auf acht mp3-CDs veröffentlichte Lesung der beiden zum „Hörbuch des Jahres 2024“ kürte.
Bleibt noch die Frage, warum wir heute, mehr als 40 Jahre nach Vollendung der Jahrestage, Johnsons Roman noch oder wieder lesen (bzw. hören) sollten. Für den jungen Mann damals war es insbesondere die ihm beim Lesen vermittelte Erkenntnis, wie schleichend banal sich das absolut Böse in Form des Nationalsozialismus im Mecklenburger Alltag breitmachen konnte. Für den älter gewordenen Leser ist es die Sorge, dass zu viele das Monströse dieser deutschen Vergangenheit vergessen, verdrängen oder gar leugnen könnten. Und dann kommt da beim Hören des Hörbuchs noch eine ganz neue Erkenntnis hinzu: Wie melodiös Johnsons Sprache ist, wie virtuos er die vielen Stimmen seines Romans zu arrangieren weiß. Das ist ganz große Kunst, ganz große Musik. Genauer: Das ist Jazz pur.
Robert Fischer