HÖRBUCHT

ZWEI DAUMEN FÜR EIN HALLELUJA

Smartphone, iPhone, Youphone. We phone. Wenn Daumen mehr als wischen können, darf man sich was wünschen. Den neuen Sexpartner des Tages oder eben Musik. Tinder für Musik – das wäre doch der Hit. Gibt es schon? Kunden, die dies gekauft haben, haben auch das bestellt? Leute, die dies streamen, bekommen auch das auf die Ohren? Nein, ein Date mit Musik, das wär’s doch – das perfekte Match. Ob als Soundtrack für den Dschungel des Lebens oder betörendes Neuland im siebten Himmel der Liebe. (Streiche -land, setze -wölkchen.) Die meisten Daumen können ja mehr als wischen. Wer texten kann, ist klar im Vorteil. (Wie? Das gilt auch für Hörbucht-Intros?) Wer wünschen kann, ist klar im Vorteil. Wünsche an das Universum? Jede Menge. In der Hörbucht…

Björn Simon

Rudyard Kipling

Das Dschungelbuch

Sauerländer Audio / Argon-Verlag

4 Sterne

Das Dschungelbuch? Klar kenn’ ich“, so denken wohl die meisten. Das ist doch die Geschichte mit dem kleinen Mogli, dem lustigen Bären Balu, der einschläfernden Schlange Kaa und und und. Tatsächlich dürfte es aber wenige Bücher geben, bei denen die Zahl derer, die behaupten, es zu kennen, und derer, die es wirklich gelesen haben, weiter auseinandergeht als bei Rudyard Kiplings Erzählungssammlung von 1894. Grund dieser Diskrepanz ist der gleichnamige Disney-Zeichentrickfilm von 1967, der einen festen Platz im kollektiven Bewusstsein einnimmt, aber nur entfernt mit dem Buch zu tun hat. Wer etwas näher an Kiplings Text herankommen möchte, hat jetzt auf kurzweilige Art die Gelegenheit dazu. Für die Deutsche Oper Berlin haben Martin Auer, Rüdiger Ruppert und Sebastian Krol eine musikalische Lesung mit Jazzorchester inszeniert, die mit Christian Brückner als Rezitator die deutsche Synchronstimme überhaupt aufbietet.

Die Bearbeitung beschränkt sich auf die beiden ersten der sieben Kapitel des Buchs, streicht sie auf 75 Minuten zusammen und unterlegt und kommentiert sie aufwendig mit Musik, gespielt von einem elfköpfigen Orchester, das mit drei Bläsern, vier Streichern, drei Perkussionisten plus E-Gitarre vielseitig aufgestellt ist. Stilistisch reicht das von untermalenden Passagen bis zu Programmmusikalischem und Leitmotiven. So löst der erste Auftritt des Tigers Shir Khan durchaus Darth-Vader-Assoziationen aus, die Gitarrist (und Sohn) Kai Brückner aber mit einem krachenden Progrock-Solo wieder wegwischt. Etwas klischeehaft fällt der stabreimende Blues „Baghira Before Blue Balu“ aus, lebhaft und anregend das Durcheinander von schnellen Streicher- und Bläsermotiven bei einer Verfolgungsjagd nach Moglis Entführung durch das Affenvolk. Bei Auftauchen der Schlange Kaa sorgt eine einschmeichelnde Duduk begleitet von Sitarklängen für exotische Atmosphäre.

Die Python ist der Charakter, bei dem der Unterschied zwischen (Hör-)Buch und Film am deutlichsten ins Ohr fällt: kein säuselnder Hypnotiseur, sondern ein ebenso furchtloser wie gefürchteter Kämpfer. Auch Balu, der im Buch eher ernst als tapsig beschrieben wird, und Mogli, der im Umgang mit seinem Wolfsrudel ziemlich herrische Seiten zeigt, sind deutlich weniger liebenswert und kindgerecht gezeichnet, als man sie von Disney kennt. Was auf dem Hörbuchcover in typisch peinlicher Marketingsprache als „unvergessliches Hörerlebnis für die ganze Familie“ angepriesen wird, könnte zumindest die kleineren Familienmitglieder vor ein paar Aufgaben stellen.

Eine Sprechkunst-Bank ist wie gewohnt Christian Brückner, der den Text mit großer Gestaltungslust zum Leben erweckt. Bedrohliches und Melancholisches, Wolfsgeheul und Schlangenzischeln, abenteuerlicher Tumult und Nachdenken über das Gesetz des Dschungels – Brückner findet den richtigen Ton und beweist im Zusammenspiel mit dem Orchester auch musikalisches Empfinden. Unterm Strich ein gelungener Versuch, vermeintlich Bekanntes in ein anderes Licht zu rücken.

Guido Diesing

Markus Geiselhart & Big Band Pfaffstätten

Wiener Neustädter Kanal Suite

Cracked Anegg Records

4 Sterne

Im Jahr 1797 begannen die Bauarbeiten eines schiffbaren Kanals, der Wien mit Triest verbinden sollte. Knapp 200 Jahre später entstand die Idee, zu dessen Bau und Geschichte eine Komposition in Auftrag zu geben. Markus Geiselhart beschäftigte sich daraufhin eingehend mit der Historie des Bauwerks, stellte die Texte zusammen und schrieb die Musik der Wiener Neustädter Kanal Suite, die er mit der Big Band Pfaffstätten und Andy Haderer als Gastsolist aufnahm. In drei Teilen widmet sich die Suite dem Kanalbau, Geschichten rund um den Kanal und dem Kanal als Industriedenkmal.

Die Suite beginnt mit einem klassischen Big-Band-Opening. Intonationssicher, groovend und dynamisch präsentiert der Klangkörper aus Pfaffstätten dabei klassische Bigband-Musik. In sparsam instrumentierten Zwischenspielen erzählt Peter Meissner die Geschichte des Kanals und Anekdoten, die sich rund um ihn ereignet haben. Markus Geiselhart geht in seinen Kompositionen teils klangmalerisch und teils subtil auf den Text ein. „Sebastian von Maillard vs. Joseph Schemerl“ setzt die Spannungen der beiden Bauherren und das daraus resultierende Frage- und Antwortspiel musikalisch in Szene. In „Das Ende als Anfang“ setzt Geiselhart sehr plastisch das Warten auf sich nähernde Kampfflugzeuge gegen Ende des Zweiten Weltkrieges um. Über einem rhythmischen Pattern schwebt ein Bläsersatz, der an Sirenen beim Fliegeralarm erinnert und der sich immer mehr aufbaut, bis das Chaos ausbricht.

In der Wiener Neustädter Kanal Suite wachsen Geschichten rund um ein Industriedenkmal mit Big-Band-Musik zu einem Gesamtkunstwerk zusammen. Dadurch ist die Suite mehr als Lokalgeschichte, die musikalisch vertont wurde.

Thomas Bugert