HÖRBUCHT

GROUNDHOPPING

Groundhopping“ meint im Fußball das, was im Jazz wohl „Normalzustand“ hieße oder „Business as usual“. Sich alle Stadien, Arenen und Bolzplätze dieser Fußballwelt anschauen zu wollen, bespielt vom jeweiligen Heimverein und Gegner X, entspricht der Sehnsucht nach Gigs in den kleinsten und größten, den verruchtesten und populärsten Jazzclubs dieses Planeten, auf den mainstreamigsten und speziellsten Spezial-Festivals – und erst das Reisen. Der Weg ist das Ziel. Gut, vor Corona… Wobei es da natürlich auf der Bühne keine Gegner gäbe, sondern „nur“ Mitspieler, außer vielleicht das Virus höchstpersönlich. Corona hat mal eben das Publikum geschreddert und auf Mindestmaß gestutzt, einen laufenden Meter Fünfzig, Mindestabstand im Fußball wie in der Musik wie in der guten alten Kultur. Szenen gehen kaputt, Sehnsüchte drehen frei. Niemand kommt hier lebend raus. Will meinen: unbeschadet an Existenz und Seele. Wir kämpfen gegen einen unsichtbaren Unhold, der uns Freiheit und Geschmack rauben will, nennen wir es das Leben. Wie es endet, das wissen wir – aber nicht so, bitte! Lieber mit Stil und Verve und Lust und Kunst und Kultur und Leidenschaft, dass es eine Art hat. Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.

In der Hörbucht

Björn Simon

Campino

Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde

Tacheles! / Roof Music

3,5 Sterne

Einige Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist.“ Dieses berühmte Zitat des legendären Liverpool-Trainers Bill Shankly hat auch den jungen Andreas Frege – bürgerlicher Name von Campino – schwer beeindruckt, obwohl er es als Zwölfjähriger gar nicht so richtig versteht. „Aber ich ahnte, dass es hier um etwas Großes ging“, erzählt Campino. „Ich beschloss, das sollte in Zukunft auch meine Einstellung zum Fußball sein.“

Warum ein kleiner Junge aus Mettmann – denn von dort und nicht aus Düsseldorf kommen auch die Toten Hosen – sich nun ausgerechnet eine englische Mannschaft zum Objekt seiner Begierde auserkoren hat, hat viel mit Campinos Familiengeschichte, aber auch mit der Strahlkraft britischer Popkultur in den 70er Jahren zu tun. Campinos Mutter ist Engländerin und die Besuche bei der Insel-Verwandtschaft in den Sommerferien sind obligatorisch. „Die Namen solcher Vereine wie Crystal Palace, West Bromwich Albion oder Queens Park Rangers klangen wie Zauberworte im Vergleich zu Wuppertaler SV, Rot-Weiß Essen oder Hannover 96“, erinnert Campino sich noch gut. Die Liebe zum FC Liverpool war auch ein Alleinstellungsmerkmal für das Vorstadtkind, für das vor allem Kevin Keegan – der später bekanntlich in Deutschland beim HSV spielen sollte – ein früher Held wurde.

Das alles erzählt Campino in Hope Street mit viel Liebe zum Detail und Ausflügen zu den Beatles, zur Queen und zur Rockmusik – die Toten Hosen waren geradezu legendär dafür, dass sie auch für drittklassige Punkbands wie Chelsea und Johnny Moped schwärmten, solange die nur aus England kamen – und in lebendiger Sprache. Dass es in neun Stunden der romantischen Nostalgie etwas zu viel wird, ist zu verschmerzen. Mit dem Brexit hat auch Campinos England-Begeisterung einen empfindlichen Dämpfer bekommen – in einer Art Trotzreaktion hat er als Doppelstaatler die britische Staatsbürgerschaft angenommen. Und kann so sicher sein, auch in Zukunft jederzeit die Heimspiele des Liverpool FC besuchen zu können.

Rolf Thomas

Robert Seethaler

Der letzte Satz

Tacheles! / Roof Music

3,5 Sterne

Es bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Das ist Gustav Mahler nur zu bewusst, als er 1911 seine Rückreise aus New York nach Europa antritt, wo er einige Wochen später sterben wird. Von einer Herzerkrankung geschwächt, verbringt der Komponist und Dirigent die Überfahrt auf dem Ozeandampfer „Amerika“. Von einer Wolldecke gewärmt, allein auf dem Sonnendeck. Dort platziert hat ihn Robert Seethaler, der Mahler in seinem neuen Roman Der letzte Satz angesichts des nahenden Todes auf sein Leben zurückblicken und sinnieren lässt: „So ist es also mit dem Sterben: stillhalten und warten.“ Der Schiffspassagier, der ohne eigenes Zutun und ohne Möglichkeit der Einflussnahme seinem Ziel entgegengetragen wird – das ist hier durchaus sinnbildlich zu verstehen.

Ist die äußere Handlung des Romans auf ein Minimum reduziert, spielt sich das Geschehen in inneren Monologen ab, in denen Seethaler Eckpunkte aus der Biografie seines Protagonisten abhandelt, sentimental eingefärbt durch die Perspektive eines matten und ausgelaugten Menschen. Gedanken an Momente privaten Glücks sind für Mahler lediglich Auslöser einer großen Melancholie über erlittene Verluste. Ihn quälen Erinnerungen an seine vier Jahre zuvor gestorbene Tochter, das widersprüchliche Verhältnis zu seiner Frau Alma zwischen Vergötterung und Entfremdung und das Erkennen der Schwierigkeit, wirkliches Verständnis für einen anderen Menschen zu empfinden. Bei einigen Begebenheiten aus Mahlers Leben, etwa seiner Begegnung mit Auguste Rodin, dem er für eine Büste Modell sitzt, oder einer Unterredung mit Sigmund Freud, wirkt die Schilderung ein wenig wie Seethalers pflichtschuldiger Fleiß, auch diese bekannten Episoden abzuhaken.

Sein Ansatz, Mahlers Gedanken zu lesen (und zu schreiben), hat Vor- und Nachteile: Einerseits bietet er die Chance, vermeintliche innere Konflikte herauszuarbeiten, andererseits bleibt dem Leser (oder dem Hörer des Hörbuchs) die Differenz zwischen historischer Person und Erfindung einer Romanfigur stets allzu bewusst. Ein handwerklicher Fehler wie die Erwähnung einer „großen Quarte“ verstärkt diesen Eindruck nur. Überhaupt: Dass die Musik, immerhin das Zentrum von Mahlers Leben, in seinen Gedanken fast völlig ausgespart wird, ist kaum glaubwürdig. Seethaler legt ihm dafür immerhin eine gute Erklärung in den Mund: „Man kann über Musik nicht reden. Es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“

Matthias Brandt liest den Text angemessen ruhig und erschöpft. Nur sehr vereinzelt redet sich sein Mahler in Rage, wenn er sich etwa über die Zustände während seiner Zeit als Direktor der Wiener Hofoper ereifert, über die Ignoranz der Musiker, Honoratioren und Zuschauer. Bedeutungsschweres und kurzzeitiges Pathos stellt Brandt ebenso treffend dar wie deren häufig auf dem Fuße folgende selbstdistanzierte Zurücknahme. Doch auch wenn er stimmungsvolle Szenen und eine differenzierte Gedankenwelt heraufbeschwört – wirklich nah ist man Mahler am Ende der knapp drei Stunden dennoch nicht gekommen.

Guido Diesing