The London Column
Jazz ist bekannt für Überraschungen, aber dies ist doch etwas Besonderes: Judith O’Higgins, die gerade ihr neues Album His ’n’ Hers (Ubuntu / Orchard) herausbringt, auf dem sie zusammen mit ihrem Ehemann Dave Tenorsaxofon spielt, ist ein und dieselbe Person wie Judith O’Higgins, die Rechtsmedizinerin, die ihre ungewöhnliche Lebensgeschichte in dem faszinierenden Buch Spuren des Todes (Fischer Verlag, 2013) erzählt.
Sie ist als Judith Schröer in Lippstadt aufgewachsen und erinnert sich gern daran, wie sie als Teenager die Clubs der Umgebung besuchte und englische Bands wie Loose Tubes und Itchy Fingers hörte. Mit dem Saxofon fing sie erst mit 16 an, machte aber schnelle Fortschritte. Während ihres Medizinstudiums in Münster war sie Mitglied der Big Band der Universität, die von Bob Lanese, dem Leadtrompeter bei James Last, geleitet wurde. „Bob wurde mein Mentor – und derjenige, der in mir den Wunsch weckte, nach Hamburg zu gehen, weg aus Münster.“ Dort spielte sie – neben der Arbeit an ihrer Doktorarbeit – in Laneses Downtown Big Band, oft zusammen mit Spitzensaxofonisten vom NDR wie Lutz Büchner, einmal sogar mit Koryphäe Herb Geller neben ihr. Aber da hört der Jazz nicht auf. Sie wohnte in der Gärtnerstraße direkt über dem Birdland-Club. „Er war mein Wohnzimmer.“
Im Jahr 2005 passierte dann etwas Neues in Judiths Doppelleben als Rechtsmedizinerin und Saxofonistin: Sie arbeitete damals in Thailand in einem Team von Pathologen mit der gruseligen Aufgabe, die vielen Tausend Tsunami-Opfer zu identifizieren. Sie suchte nach etwas Neuem. Da fand sie plötzlich in ihrer Mailbox eine Nachricht von einem befreundeten Saxofonisten, Dave O’Higgins, den sie als Mitglied von Itchy Fingers kannte. „Und der Rest ist Geschichte“, lächelt sie. Sie zog 2007 nach England, heiratete Dave 2009 und passte sich schnell den völlig ungewohnten Strukturen der Rechtsmedizin in ihrem neuen Heimatland an.
Ihr neues Album erinnert manchmal an Eddie Lockjaw Davis und Johnny Griffin. Wie ging das aber mit den Aufnahmen? „Wir hatten einen Aufnahmetermin im April, aber wir haben das Datum immer weiter vorverlegt, weil ich arbeitsbedingt sah, wie schnell das Virus sich ausbreitete, und daher vermutete, dass ein Lockdown unmittelbar bevorstand. Wir haben es gerade noch rechtzeitig geschafft, am 21. März.“ Der enorme Zeitdruck hat der Aussagekraft des Albums in keiner Weise geschadet. Da ist Lebensfreude. Und Liebe. Und das ist sicher keine Überraschung.
Jazzjournalist Sebastian Scotney betreibt die Website londonjazznews.com