HÖRBUCHT
ZWISCHEN DEN OHREN
Auch zwischen den Jahren etwas zwischen den Ohren zu haben, wäre eine dieser Grundvoraussetzungen, die tatsächlich zu feiern wären, denn Niveau ist keine Creme. Auch im neuen Jahr etwas Gutes auf die Ohren zu kriegen, danach lechzen unsere komplexesten Verbindungen, Areale und Knöchelchen, von Hammer und Amboss über Steigbügel und Hörschnecke bis zu Trommelfell und Paukenhöhle hin zur Eustachischen Röhre. Röhrenden Hirschen geröhrt gehört, quasi geöhrt zu haben, kann rührend sein, nicht nur für Jägermeister. Banaler wird’s nicht. Denn die Öhrbücher, die wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, liebe Hörerinnen und Hörer, ohne Agenda in 2020 ans Herz legen und an die Lauschmuscheln, verströmen jenen Charme des Unerhörten, dem wir uns gar nicht entziehen wollen. Sondern offenen Ohrs entgegenhorchen. In der Hörbucht…
Björn Simon
Christine Lavant
Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus
Mandelbaum / Audiobuch
5 Sterne
Es sind verstörende Innenansichten aus der Psychiatrie, die Christine Lavant in ihren Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus beschreibt. Mitte der 1930er Jahre verbrachte die österreichische Dichterin als Zwanzigjährige sechs Wochen in der Landeskrankenanstalt Klagenfurt, nachdem sie versucht hatte, sich mit Medikamenten das Leben zu nehmen. Ihre Erinnerungen an die Zeit in der Klinik schrieb sie elf Jahre später auf, doch erst 2001, fast 30 Jahre nach ihrem Tod, wurden sie erstmals veröffentlicht. Eine gekürzte Textversion mit musikalischer Begleitung ist jetzt in der in jeder Hinsicht empfehlenswerten Klangbücher-Reihe des Wiener Mandelbaum-Verlags erschienen.
Lavants Text besticht durch den präzisen, bisweilen sezierenden Blick, mit dem sie den Klinikalltag, aber auch ihre eigenen Empfindungen und Verhaltensweisen beobachtet und kommentiert. Sie beschreibt die Hierarchien, Sympathien und Antipathien innerhalb des Pflegepersonals, aber auch unter den Patienten, schildert eigene Schwäche und Überlebensstrategien und findet dabei immer wieder die zur Reflexion nötige Distanz. Dabei bedenkt sie, dass ihr Verhalten von Ärzten und Mitpatienten beurteilt und bewertet wird, und setzt sich mit deren Erwartungen auseinander: „So schoben sie mich in den Waschraum ab, wo ich dann auch pflichtschuldigst einen Weinkrampf bekam.“ Neben einem Sinn für die unfreiwillige Komik mancher Begebenheiten finden sich Klagen über das Verhalten einzelner Pfleger, Machtmissbrauch und Willkür. Auch Selbstironie ist Lavant nicht fremd, wenn sie anmerkt: „Vielleicht hatte der Glatzköpfige recht, als er im Hinausgehen sagte: ,Wieder ein abschreckendes Beispiel dafür, wohin es kommt, wenn Arbeiterkinder Romane lesen, anstatt zur ordentlichen Arbeit herangezogen zu werden.‘“
Gerti Drassl liest den Text äußerst eindringlich und mit einer bemerkenswerten Ausdruckspalette, in der die Verunsicherung der Ich-Erzählerin und die Angst davor, die psychiatrische Anstalt als den ihr angemessenen Ort annehmen zu müssen, ebenso Platz findet wie die analytische Schärfe ihrer Beobachtungen, als wäre ihre Perspektive die einer Außenstehenden. Die Gemütszustände finden auf glänzende Weise ihre Entsprechung in der musikalischen Umsetzung durch das Trio Brot & Sterne. Mit Drehleier (Matthias Loibner), Trompete (Franz Hautzinger) und Perkussion (Peter Rosmanith) erschaffen die Musiker Räume und dichte Atmosphären, die die Dringlichkeit des Textes noch verstärken. Geheimnisvolle Klänge verschmelzen mit den Worten zu einer Einheit, als würde man ins Innere der Gedanken vordringen, die in eine tieftraurige Klage über die unerfüllte Liebe münden: „In Wahrheit sind wir ja zu allem eher imstande, als auch nur ein Korn echter Liebe aufzubringen. Angeblich soll Gott uns lieben, aber er spielt eben auch nur – nein, nicht einmal das. Er arrangiert bloß. (…) Wir lieben nicht, wir tanzen wie Nachtfalter um das künstliche Licht.“
Guido Diesing
Various Artists
40 Jahre Titanic – Der endgültige Satire-Soundtrack
WortArt
4,5 Sterne
Die größten Coups der langlebigen Satirezeitschrift TITANIC sind schnell benannt: der Buntstiftlutscher bei Thomas Gottschalk, Gabi und ihre Banane und der ehemalige Chefredakteur Martin Sonneborn, der nun seit Jahren für die PARTEI im Europaparlament sitzt. Wie vielfältig das „Satireheftchen“ (Max Goldt) war und ist, wird auf dem üppigen 5-CD-Set zum 40-jährigen Jubiläum mehr als deutlich. Redaktionsassistentin Birgit Staniewski führt mit ruhiger Stimme durch ein Programm, das chronologisch zusammengestellt ist wie ein bunter Abend und dabei Lehrreiches (Pit Knorr über die Gründung des Magazins) mit literarisch Hochstehendem (Eckhard Henscheid liest „Die Wurstzurückgehlasserin“) und offensiv Albernem (der Song „Versucht’s doch mal mit Mohammed“) verbindet. Es ist in der Rückschau beeindruckend, wer schon alles für „Das endgültige Satiremagazin“ gearbeitet hat: Von den bekannten und längst verstorbenen Neue-Frankfurter-Schule-Titanen der Gründungs-Ära (Robert Gernhardt, Chlodwig Poth, F.K. Waechter) über soignierte und brachiale Literaten (Max Goldt – dessen legendäre Kolumne heftig vermisst wird – und der auch schon verstorbene Wiglaf Droste) bis zum heutigen WELT-Kolumnisten Hans Zippert. Wie schlecht der schräge Humor der TITANIC – der unter anderem dadurch nicht altert, dass die Redaktion öfter mal ausgetauscht wird – von der Normalbevölkerung meist verstanden wird, machen insbesondere Tondokumente deutlich, die von der Redaktion aufgezeichnet wurden. Als die BILD-Zeitung im Zuge der Verteilung von Präsentkörben an FIFA-Funktionäre durch TITANIC die Telefonnummer der Redaktion öffentlich macht, erreichen sie Anrufe, die – obwohl sie durch das coole Understatement der Redakteure am Telefon oftmals ins Leere laufen – in ihrer strunzdummen Empörung und monumentalen Bräsigkeit schon wieder ganz prächtig sind („Sie sind ganz große Schweine, die TITANIC!“). Dass allerdings der Ausdruck „Sperma-Eimer“ zu den üblichen Schimpfworten für Mädchen in deutschen Schulen der Gegenwart gehört, ist eine Erkenntnis, die einem gerne erspart geblieben wäre. Trotzdem herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum.
Rolf Thomas