Jazz in E.

Eberswalde

© Torsten Stapel

Von Thomas Melzer. Eine Operninszenierung, sagt man, benötigt etwa drei Jahre Vorlauf, ein Jazzfestival vielleicht nicht ganz so viel. Gleichwohl ging Jazz in E. in diesem Jahr auf Nummer sicher. Weitere Coronakapriolen im Kalkül, wurde der 28. Jahrgang open air geplant. Eberswalde hat hierfür einen idyllischen Ort: den 1830 angelegten Forstbotanischen Garten, Arboretum der Königlich Preußischen Höheren Forstlehranstalt in Eberswalde. Zum Lieblingsplatz des Berichterstatters geriet die sogenannte „Baumelbank“. Im Alpinum gelegen, in Hör-, aber außer Sichtweite der Bühne, unter hohen Kiefernkronen und ohne Bodenkontakt der Füße, entgrenzt sich hier die Musik von Raum und Zeit.

Manchmal allerdings bannte auch das Bühnengeschehen. So am ersten Abend, an dem die Norweger Stian Westerhus und Maja Ratkje die Tradition der morbiden (Opern-)Duette auf höherer Ebene zelebrierten. Ihr Zusammenspiel, bislang nirgends konserviert, hatte Geheimtippstatus. Ratkje und Westerhus griffen auf Shakespeare zurück. In Hamlet, fünfter Akt, diskutieren die Totengräber, während sie das Grab für die kürzlich verschiedene Ophelia schaufeln, ob ein christliches Begräbnis verdient, wer sich selbst aus dem Leben nahm. Hier nun kam Pergolesi dazu, Ratkje verharrte am Harmonium in den tiefen Registern, Westerhus zupfte an der Gitarre … und dann sang Ratkje herzzerreißend traurig, herzzerreißend schön: „In youth, when I did love, did love / methought it was very sweet /…/ But age, with his stealing steps / hath claw’d me in his clutch…“. Westerhus fiel ein, mit müder, gebrochener Stimme wollte er wissen: „Whose grief is so loud and clear? Whose words of sadness make the planets stand still?“ Über der Konzertlichtung lag eine geradezu gebannte Spannung. Kein Wort war zu hören, kein Rascheln, kein Gläserklirren. Der große Nachteil eines Open-Air-Konzerts, keine Wände zu haben, die Energie zurückwerfen und konzentrieren, war hier nicht zu spüren. Als schließlich „Verona“ verklungen war, eine Eigenkomposition, hielt es das Publikum nicht mehr auf den Plätzen, und es erlöste sich mit stürmischem Applaus.

© Torsten Stapel

Im Übrigen: vier Tage vielfältiges Programm mit einigen Novitäten. Tobias Hoffmann stellte sein neues Quartett erstmals außerhalb von Köln vor und bekam dafür eine antike Hammondorgel auf die Bühne – eine Stunde kompletter Weltvergessenheit. Die innige Verbindung von Jazz in E. mit Luise Volkmann, die bei den vorangegangenen drei Festivals mit unterschiedlichen eigenen Formationen gastiert hatte, brachte sie diesmal mit der Band Mother der Bassistin Athina Kontou nach E. Das Joanna Duda Trio aus Polen pflegte die Bande zum nahe gelegenen Nachbarland. Und auch Richard Koch aus Wien ist ein Jazz-in-E.-Stammgast, trotz ständig wechselnder Begleitungen mit bestem Leumund. Diesmal also mit dem eigenen Richard Koch Quartett. Das präsentierte seine neue Platte Fluss. Die meisten Stücke habe er beim Spazierengehen im Wald komponiert, erzählt Koch. Passt. Die Baumelbank bleibt leer, Koch spielt breitbeinig in Rücklage, die Trompete in der rechten Hand, mit der linken dirigierend. Das könnte leicht prollig wirken, bei Richard Koch wirkt es genial lässig. Die Musik? Soul, Schnulzen, ja Gassenhauer. U50 dürfte „geil!“ sagen, Ü50 zahlt einen Zehner ins Phrasenschwein und sagt: ganz große Oper.