JAZZTHETIK präsentiert

jazzahead! 2021

jazzahead! © jacek brun

Virtuelle Action-Show statt Geistermesse

Ob man nun Fan von virtuellen, hybriden oder sonstigen neuartigen Formaten ist oder diesen eher skeptisch gegenübersteht – in Bremen ist die Fachwelt des Jazz im Begriff, etwas nie Dagewesenes auf die Beine zu stellen.

Von Jan Kobrzinowski

Unter dem Motto „Close together from afar“ ist eine digitale Messe samt Festival mit „offenem analogen Fenster“ geplant. Ein Gespräch mit Sybille Kornitschky von der Messe Bremen, Projektleiterin der jazzahead! 2021.

Jan Kobrzinowski: Wie machst du Online-Skeptikern die jazzahead! 2021 schmackhaft?

Sybille Kornitschky: Unser Plan A ist, Stände, Fachpanels und den gesamten Messebetrieb wirklich digital durchzuführen. Wir planen seit November auf Hochtouren und sind deswegen jetzt im Vorteil. Die digitale ist dabei nicht die Notlösung statt einer großen Live-Veranstaltung. Wir haben uns für eine hochprofessionelle digitale Plattform entschieden, die wir nicht selbst bauen, sondern mieten. Das ist natürlich eine Riesen-Investition. Messe und Festival – alles, was man sonst live erlebt, wird digital möglich sein, nur anders: nämlich viel unmittelbarer, konkreter, mit intensiverem Austausch.

Jan Kobrzinowski: „Close together from afar“ – ein optimistisches Motto. Wie soll das gehen?

Sybille Kornitschky: Wir kommen aus fünf Kontinenten zusammen, wenn auch nicht am gleichen Ort. Die digitale Plattform wird den Austausch vielleicht sogar verbessern, z.B. mit einem Matchmaking-Tool, das einem passende Gesprächspartner*innen vorschlägt, ohne sich selbst durch sämtliche Profile klicken zu müssen. Alle verfügen über einen eigenen Kalender für vereinbarte Meetings oder relevante Panels. Gespräche im virtuellen Raum werden unmittelbarer, direkter. Das fordert zwar alle mehr und setzt gute Vorbereitung voraus, aber die Technik wird funktionieren.

Jan Kobrzinowski: Was ist neu an der Online-Version?

Sybille Kornitschky: Neue Formate sind z.B. parallel laufende Umfragen zum Vortragsthema, Speaker Q&As, Diskussionen im Chat. So können sich viel mehr Leute direkt beteiligen als klassisch vor Ort. Vorträge werden aufgezeichnet und als On-Demand-Video zur Verfügung stehen, das macht den „Messebesuch“ flexibler. Und natürlich werden so auch die verschiedenen Zeitzonen der internationalen Gäste berücksichtigt, niemand verpasst etwas.

Jan Kobrzinowski: Wie darf man sich das „analoge Fenster“ vorstellen?

Sybille Kornitschky: Ob das Showcase-Festival, das wir auf jeden Fall live in Bremen produzieren werden, auch live zu erleben sein wird, steht noch nicht fest. Die Auswahl ist, wie immer zu diesem Zeitpunkt, längst gemacht. Weil wir das Gastland Kanada erst 2022 nachholen, sind es weniger, es haben aber bereits 20 der 32 Acts die Anreise zugesagt. Für die anderen suchen wir nach professionellen Aufnahmemöglichkeiten in den Herkunftsländern. Die Live-Streams werden zunächst nur für registrierte Fachteilnehmer*innen zur Verfügung stehen, aufgezeichnete Konzerte sind dann einige Wochen später öffentlich zugänglich.

Jan Kobrzinowski: Wie viel Raum gibt es für spontane Entscheidungen?

Sybille Kornitschky: Spontaneität spielt eine wichtige Rolle, und das ist eher von Nutzen als von Nachteil. Im März gibt es eine weitere Momentaufnahme. Das klassische Festival zusammen mit Veranstaltern und Kultureinrichtungen der Stadt Bremen fällt natürlich diesmal kleiner aus – wir beziehen aber große Spielstätten ein, ob rein digital oder mit Publikum. Im März 2020 mussten wir alles auf dem Höhepunkt der Vorbereitungen komplett abwickeln. Mit unserer Entscheidung für die digitale Version mit wirklich spannenden Inhalten haben wir nun Planungssicherheit gewonnen und sind positiv, ja, sogar ein bisschen euphorisch gestimmt.

Jan Kobrzinowski: Wie ist die Resonanz auf eure Vorarbeit?

Sybille Kornitschky: Das Feedback auf unsere digitalen Angebote ist sehr gut, wir produzieren ja bereits seit Sommer 2020 ein fortlaufendes Programm: ein Blog mit Artikeln, Podcasts, Bandempfehlungen, Live-Panels auf Facebook und virtuelle Sessions zu aktuellen Themen. Die Leute sind dankbar, dass wir uns nicht lahmlegen lassen, sondern die Zeit nutzen.

Jan Kobrzinowski: Es braucht viel Disziplin, vier Tage lang virtuell dabei zu sein.

Sybille Kornitschky: Uns ist klar, dass niemand nonstop vor dem Rechner sitzen wird, aber viele werden uns folgen und das Angebot annehmen. Wir bleiben ja nach dem 2.5. online. Netzwerken wird bis in den Sommer hinein möglich sein. Es registrieren sich jetzt schon Leute, die unter normalen Umständen nicht gekommen wären. Viele Nebenkosten einer Messeteilnahme fallen ja weg.

Jan Kobrzinowski: Im Messe-Alltag kommt man mit CD oder Broschüre in der Hand an einen Stand. Online wird das schwierig.

Sybille Kornitschky: Sicherlich ist das klassische Messegeschäft nicht 1:1 in der virtuellen Welt abbildbar. Die Stände werden als Aussteller-Profile dargestellt, man kann, wie sonst in der Messehalle, online durch das Angebot „schlendern“ bzw. browsen. Aussteller können sich detailliert mit Dokumenten, Videos oder Fotos präsentieren, analog zu physischen Auslagen am Stand. Man kann mit dem Standpersonal zu bestimmten Zeiten direkt über Chat, Direktanruf oder Videocall in Kontakt treten. Material kann digital – z.B. über eingefügte Links im Chat – ausgetauscht werden.

Jan Kobrzinowski: Stehen wir auch live vor etwas ganz Neuem?

Sybille Kornitschky: Ja, das Showcase-Festival geht ganz bewusst an Orte mit Kapazitäten von mehreren Tausend Plätzen, in der ÖVB Arena können wir bei Lockerungen bis zu 1.700 Besucher unterbringen. Das schafft auch mehr Raum für die Künstler*innen, z.B. für Interviews, Backstage-Treffen etc. Es soll nicht großspurig klingen, aber vielleicht kann man sich alles vorstellen wie eine hochprofessionelle viertägige TV-Show. Wenn Publikum zugelassen wird, dann werden sogar mehr hineinpassen als in unsere traditionellen Locations.

Jan Kobrzinowski: Und der gemütliche Teil? Viele Verhandlungen werden ja beim Bier nach den Showcases geführt.

Kristina Barta Event Horizon © Michal Kubelka

Sybille Kornitschky: Das lassen wir auf keinen Fall außer Acht, auch wenn wir die vibrierende Atmosphäre des Schlachthof-Biergartens oder späte Stunden in der Pianobar des Maritim online nicht erleben können. Die digitale Plattform sieht aber spontane Treffen vor, zu denen man auch selbst einladen kann. Man kann sich für einen lockeren Hangout mit anderen dazuschalten oder zu einem konkreteren Anliegen innerhalb bestimmter Zielgruppen. Wir wissen, wie wichtig das bei der jazzahead! und gerade auch in diesen Zeiten ist.

Jan Kobrzinowski: Es gab auch Kritik: Vieles drehe sich um sich selbst – und weniger um die Künstler*innen.

Sybille Kornitschky: 2019 waren von 3.500 Fachbesucher*innen 900 Musiker*innen. Wir werden daran gemessen, ob wir es schaffen, genügend Booker, Labels, Festivalmacher*innen auf die Messe zu holen. Wir wollen dieses Verhältnis mehr ins Gleichgewicht bringen. Auch und gerade bei einer digitalen jazzahead! Alle unsere Entscheidungen treffen wir im Interesse der Künstler*innen, stehen ihnen zur Seite, helfen dabei, sich gut vorzubereiten. Ein reduziertes Angebot kann da auch zu mehr Aufmerksamkeit für jeden Einzelnen führen.

Ein wenig Publikumsverkehr Ende April täte allen gut, nicht nur Musiker*innen und Publikum, sondern auch darbenden Hotels, Veranstaltern und Gastronomie. Die Hoffnung stirbt also auch in Bremen zuletzt: Für die 15. Messe – vielleicht auch mit einem 10. Festival-Jubiläum vor Publikum, nur eben ohne Partnerland – will die jazzahead! sogar den temporären Club 100 im Pier 2 einbeziehen, gerade in einem gemeinsamen Kraftakt Bremer Veranstalter spielfähig gemacht. Mit flexiblem Konzept soll auch für Catering, Technik und Sicherheitspersonal wieder eine Perspektive geschaffen werden.

Synesthetic4 © Astrid Knie

Website:

www.jazzahead.de