jazzahead!

Bremen

© Joerg Sarbach

Von York Schaefer. „Jazz ist ein anderer Ort, und dahin müssen wir gehen. Jazz lässt immer etwas zurück, ohne es zu vergessen.“ Die Gedanken des norwegischen Schriftstellers Lars Saabye Christensen zur Eröffnung der diesjährigen jazzahead! in Bremen waren eine Reflexion über das Wesen des Jazz an sich – als eine Musik der Freiheit und stetigen Veränderung: Jazz heißt für ihn Aufbrüche zu neuen Ufern wagen, ohne die eigenen Wurzeln zu vergessen.

Seit 2006 hat sich die jazzahead! mit ihrer Doppelfunktion als Branchentreff und stadtübergreifendes Festival mit einem Kulturprogramm auch jenseits von Musik zu einer festen Größe der internationalen Jazzszene entwickelt hat. Für 2020 hat man mit Kanada sogar erstmals ein Partnerland aus Übersee auserkoren. Auch in diesem Jahr konnte der Veranstalter Messe Bremen wieder einen leichten Besucherzuwachs vermelden. Die Zahl des Fachpublikums bei der Messe stieg auf über 3400 Teilnehmer aus 64 Ländern, zu den gut 100 Konzerten pilgerten knapp über 18.000 Musikfans. So war auch die Festivaleröffnung im Schlachthof und zwei Messehallen mit acht Bands aus dem diesjährigen Partnerland Norwegen am Donnerstag bis in den späten Abend gut besucht.

Als „Kracher in Knallrot“ beschrieb der Kollege vom örtlichen WESER-KURIER das nächtliche Konzert des Hedvig Mollestad Trios. Die namensgebende Gitarristin sowie Bassistin Ellen Brekken trugen knallrote Glitzerkleider, Trommler Ivar Loe Bjørnstad immerhin einen roten Schlips. Musikalisch inszenierte die Band eine Mischung aus schepperndem, vertracktem Rock zwischen Black Sabbath und Frank Zappa, gepaart mit der spielerischen Virtuosität klassischer Jazztrios. Eröffnet hatte den ausverkauften Abend Schlagzeuger Thomas Strønen mit seinem Quintett Time Is a Blind Guide, das einen zumeist elegisch-minimalistischen Kammerjazz mit Einflüssen aus nordischer Folklore, Neuer Musik und Klassik spielte. Ein oft geräuschhaft experimenteller Sound mit Strukturen, die zerfallen und wieder zusammenfinden. Als kompakte und unwiderstehlich groovende Einheit präsentierte sich auch das Trio Acoustic Unity um Gard Nilssen (dr), André Roligheten (sax) und Ole Morten Vågan (b) – eine rhythmisch pointiert spielende Band im klassischen Stil. Wie hatte es Lars Saabye Christensen in seiner Eröffnungsrede gesagt? „Jazz ist Disziplin. Der exakte Beat ist das Maß aller Dinge.“

Ein Höhepunkt beim freitäglichen European Jazz Meeting war das Konzert des Lisbon Underground Music Ensemble (LUME). Pianist und Soundmodulator Marco Barroso verbindet in der 15-köpfigen Formation das historische Erbe von Big Bands mit einem zeitgemäßen Ansatz. Die Musik von Duke Ellington über Glenn Miller bis zu Maria Schneider dient ihm als Ausgangspunkt für eine offene und selbstbewusste Musik, einen „Wall of Sound“ aus zwölf Bläsern, durchsetzt mit spitzen Trompetenpartien. Wie ein humorvoller Kommentar wirkten Zuspielungen von Radio-Stimmen und heranwehenden Musikfetzen, die der Musik einen filmischen Anstrich gaben und zeigten, dass die Zukunft aus der Vergangenheit gebaut wird.

© Joerg Sarbach

Die Zukunft noch vor sich und die Vergangenheit des Jazz aufgesogen hat der erst 18-jährige Matthew Whitaker. Bei der Overseas Night am Samstag saß der blinde New Yorker zwischen Hammond-Orgel und Flügel im rappelvollen Schlachthof. Er ist ausgestattet mit einem feinen Gespür für melodische Wärme und Spannungsaufbau, für rhythmische Akzente und mitreißende dynamische Ausbrüche. Ein Orgelsolo spielte er nur mit den Fußpedalen, die Hände erhoben wie ein Gospelpriester. Die Geister von Oscar Peterson und Stevie Wonder schienen über ihm und seiner Band an Gitarre, E-Bass und Schlagzeug zu schweben. „Beim Jazz schaut die Erinnerung nach vorne“, hatte Lars Saabye Christensen gesagt. Er hätte dabei an Matthew Whitaker denken können.