Jazzfestival Münster

© Joscha Werschbizky / M4 Media

Von Roland Spiegel. So kann ein Festival-Jahr beginnen! Das seit 1979 bestehende Jazzfestival im westfälischen Münster ist in mehrerlei Hinsicht ein besonderes Erlebnis. „Wow, klasse Location!“, liest man in Social Media über den Spielort, den charmant-eleganten 1950er-Jahre-Bau des Theaters. Dessen großes Haus bietet einen Himmel von 1200 dimmbaren Wohnzimmerlampen, unter dem Konzerterlebnisse sofort etwas Heimelig-Gemütliches haben. Am ersten Wochenende des Jahres startete das Festival dort nach den Pandemie-Ausfällen wieder durch – und das gleich mit einer so fein gemischten Vielfalt, dass der schwedische Kornettist Tobias Wiklund im Schlusskonzert vor vollem Hause staunte: Solch ein Nebeneinander vieler musikalischer Farben drücke eigentlich „das Wesen der Demokratie“ aus.

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Wiklund, der rotbärtige Rübezahl mit dem besonders plastisch sprechenden Ton am trompetenähnlichen Instrument aus der Jazz-Frühzeit, hatte recht: Jazz, wie er in Münster zu erleben war, taugt in seiner farbenreichen, gleichberechtigten Vielfalt zum Gesellschaftsmodell. Der Programmgestalter Fritz Schmücker setzt nach eigenen Worten auf eine „Ästhetik der Kontraste“ und spricht augenzwinkernd vom „Who is who des unbekannten Jazz“.

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In der Szene sind die Namen natürlich nicht ganz unbekannt, aber auch für Jazz-Vielhörer gibt es in Münster jedes Mal Neues. Dazu gehörte die Deutschlandpremiere des Programms The Big Friendly Album der Trompeterin Laura Jurd, die hier mit viel Arrangement-Witz die drei Blechinstrumente Trompete, Euphonium und Tuba kombinierte und selbst neben Trompete auch Klavier spielte. Von der britischen Insel stammte eine weitere Deutschlandpremiere: das Duo von Tenorsaxofonist Matt Carmichael und Pianist Fergus McCreadie aus Schottland, 23 und 25 Jahre alt und ungemein gelassen im ruhigen Fortspinnen folkiger Melodien, die ein besonders warmtönendes Jazz-Material abgaben. Zum ersten Mal im gemeinsamen Trio auf der Bühne waren in Münster drei Altstars der Avantgarde: Pianistin Aki Takase, Bassklarinettist Louis Sclavis und Schlagzeuger Han Bennink – Spiellust, freitönender Humor und überraschend melancholische Momente.

Viele Varianten des fein gearbeiteten Schönen gab es in Münster, vom Tango-Konzert der französischen Bandoneonistin Louise Jallu über das geistsprühende Gespann der Vokalistin Camille Bertault mit Klavier-Kreativwunder David Helbock bis hin zum in feinsten Intonations-Nuancen fesselnden kammermusikalischen Trio von Pianist Lucian Ban, Bratscher Mat Maneri und Klarinettist/Saxofonist John Surman mit Volksmelodien, die einst Béla Bartók in Siebenbürgen sammelte.

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Es wurde kontrastiert mit kantigen Experimenten und herzerfrischend wildem Ausdruck, etwa von Paal Nilssen-Loves überbordend powervoller Band Circus, von der raffiniert improvisierten Trance-Musik der österreichischen Schlagzeugerin Judith Schwarz in ihrem Trio otherMother – und nicht zuletzt von den Konzerten der Westfalen-Jazz-Preisträgerin Luise Volkmann: Die Altsaxofonistin, Komponistin und Texterin zeigte unter anderem mit ihrem Großensemble Été Large und dem subtilen Trio 3 Grams, was für ein enorm kreativer Kopf sie ist. Ein weites Ausdrucksspektrum von der liebevoll gewitternden 68er-Hommage bis zur ganz feinen Kapitalismuskritik im Trio mit zwei vorzüglichen Gesangsstimmen war von ihr zu erleben – so erfrischend und so gut komponiert wie das komplette Festivalprogramm von Münster 2023.