Jazzforum

Darmstadt

Luise Volkmann + Band © Wilfried Heckmann

Von Hans-Jürgen Linke. Einerseits sind da die Wurzeln, die Roots, die in die Erdgeschichte hinunterreichen, eine feste und irgendwie kontinentale Verankerung beschwören. Sie haben eine semantische Entsprechung in der deutschen „Heimat“, die nach Wald klingt und nach Kindheit. Beide Bedeutungsfelder scheinen auf den ersten Blick im Gegensatz zu stehen zur Offenheit, die als lebendige Qualität des Jazz häufig beschworen wird. Ist das wirklich ein Gegensatz oder handelt es sich nicht eher um zwei dialektische Kehrseiten derselben Medaille? In Edgar Reitz‘ vielteiliger Filmerzählung mit dem Sammeltitel Heimat sind Auswandererkolonnen am Horizont die permanente Begleiterscheinung heimatlicher Enge. Und auf der nach unten geschlossenen Freiheits-Skala des Umgetopftwerdens haben Sklaven und Arbeitsemigranten vielleicht durchaus Gemeinsamkeiten.

Das Darmstädter Symposium zum politischen und existentiellen Grundrauschen des Jazz widmete sich den Erfahrungsräumen, die sich für Musiker*innen aufgetan haben in den individuellen Konfliktzonen zwischen enger Heimat und horizontlos-globaler Weltoffenheit, zwischen Fremdheit und Freiheitsversprechen.

Das Preisträgerinnen-Konzert Luise Volkmanns, die den Kathrin-Preis 2021 zugesprochen bekommen hatte, mit der Formation LEONEsauvage wurde zu einer brennpunkthaften Konzentration des thematischen Feldes, auf dem die Veranstaltung arbeitete. Volkmanns Band bewegt sich auf historischen Spuren, die Sun Ra mit seinem Arkestra oder Alexander von Schlippenbach mit dem Globe-Unity-Projekt gelegt haben. Sie tut das mit einer deutlichen Unbotmäßigkeit, die eine unterirdische kulturgeschichtliche Verbindung mit dem fernen ästhetischen Urknall „Dada“ zu stiften scheint. Ihre Kompositionen und ihre Band respektieren keine stilistischen oder geschmäcklerischen Einengungen. Die Bühnenaktionen betonen das vergesellschaftende Moment des Rituals in der Musik, das von der Inszenierung und vom kollektiven Zelebrieren ausgeht. LEONEsauvage positioniert sich damit gegen ein traditionelles Konzept autonomer Kunst, die sich mit avantgardistischer Regelhaftigkeit und freiwilliger Selbstbeschränkung ausgestattet hat. Die Arbeitsweise der Band betont einerseits nachdrücklich eine Liedhaftigkeit, die Musik mit Texten und Gesang verbindet und mit einer intensiven energetischen Emphase, die in kollektiven rhythmischen Ereignisketten entsteht; zugleich ist in der Kollektivität stets eine individuelle Ausdrucksfreiheit möglich, die über die improvisierende Gestaltung instrumentaler Soloarbeit weit hinausgehen kann.

Genau wie in den multiperspektivisch zusammengestellten diskursiven Beiträgen des Symposiums entstand hier eine Kontur der Fragestellung, die der Leiter des Jazzinstituts, Wolfram Knauer, in seinem Eröffnungsbeitrag umriss: Ist die gegenwärtige mentale Aufbruchssituation im Jazz, die allenthalben wahrnehmbare Rückkopplung ästhetischer an politische Diskurse Symptom eines im Schwange befindlichen Generationenwechsels? Gibt es einen Paradigmenwechsel? Oder bestätigt sich die im Jazz seit je virulente Offenheit und Betroffenheitsbereitschaft für neue oder neu auftauchende alte Fragen? Schwierig, so ein Symposium zusammenzufassen, in der gebotenen Kürze gar vergeblich. Wer nicht da war, kann alles streamen und bald auch das Buch des Wolke-Verlags lesen, das die diskursiven Beiträge dokumentiert. Aber wer nicht da war, hat den unwiederholbaren LEONEsauvage-Auftritt nicht erlebt.