Jazzkaar

Jesse Markin © Angela Ballhorn

Tallinn

Von Angela Ballhorn. Eines der Highlights des diesjährigen Jazzkaar-Festivals in Tallinn war der Soloauftritt des Pianisten Nik Bärtsch. Der Schweizer zeigte einen gewissen Zen-Approach, saß mit sehr geradem Rücken am Klavier und spielte minimalistisch inspirierte Musik mit beeindruckend präzise durchlaufenden Figuren in beiden Händen, gepaart mit überraschenden präparierten Sounds aus der Tiefe des Flügels. Kristjan Randalu, wohl bekanntester estnischer Jazzmusiker, bewies im Quintett des Schlagzeugers Ruben Tanel, dass er sich auch in schrägen Bearbeitungen von Coltranes Giant-Steps-Changes zu Hause fühlt, und begeisterte am letzten Tag mit seinem exquisit komponierten und arrangierten Programm mit dem New Wind Jazz Orchestra. Randalu umwirbt sein Klavier, umarmt es – und manchmal bekommt es auch einen Klaps.

Mit gleich vier Auftritten war Joel Remmel der meistbeschäftigte Pianist und in seiner Performance der unscheinbarste, er scheint seinen Sololinien hinterherzuhorchen. Bei Tin Men and the Telephone geht Tony Roes wuchtiges Klavierspiel ein bisschen im Multimedia-Gewimmel von Tippen, Wischen und Videos-Schauen unter, dabei hat das Trio auch musikalisch viel zu bieten. Kirke Karja, umtriebige estnische Pianistin, zeigte im Raimond Mägi Trio ihr besonderes Verhältnis zum Instrument. Es wird analysiert, seziert und wieder zusammengesetzt, bis es dem Klavier vermutlich ähnlich schwindelig wird wie dem Zuhörer.

Doch nicht nur Pianisten tummelten sich auf dem Festival. In der 32. Ausgabe waren – für Estland typisch – viele Sänger*innen zu erleben. Liisi Koikson in der Band der Kontrabassistin Mingo Rajandi – ein traumhaftes Quintett! Beeindruckend auch die Sänger*innen der Motown-Revue: Robert Linna und Rita Ray samt fulminanter Band und Backgroundsänger*innen, denen der Spaß aus jedem Knopfloch leuchtete, brachten den Vaba Lava Saal zum Tanzen. Dem finnischen Rapper Jesse Markin gelang das ebenso wie der Sängerin Lucy Woodward mit ihrer unglaublichen holländischen Begleitband. Da bei der Jazzkaar für alle Geschmäcker etwas zu finden ist, waren auch experimentelle Konzepte zu erleben: Gebhard Ullmann mit dem Gitarristen Scott DuBois, der Gitarrist Mart Soo und Florian Walter mit seinem Hechtyphon (muss man gesehen haben!), die elektronische Band Modulshtein, Argo Vals, der Soundschichten aus seiner Gitarre auftürmte und einstürzen ließ.

Jaak Sooäär, ebenfalls Gitarrist aus Estland, stellte sein neues Projekt mit der Harfenistin Alina Bzhezhinska vor. Wirbelwind Mino Cinelu war im Duo mit dem Trompeter Nils Petter Molvær zu erleben, ganz leise spielte sich Naïssam Jalal mit ihrem neuen Trio in die Herzen der Zuhörer. Das von Anne Erm und ihrem Team klug kuratierte Festival nahm die Tradition der Hauskonzerte wieder auf – eine wahre Bereicherung! Mehrere Konzerte fanden in Privatwohnungen statt, ohne Niederschlag auf Dachterrassen mit atemberaubender Sicht über die Skyline Tallinns, bei Regen in den Wohnungen. Dass Künstler die Lockdown-Zeit genutzt haben, um sich etwas ganz Neuem zu widmen, konnte man bei Kristjan Randalus Big-Band-Projekt erleben, dieses Klangerlebnis war ebenso exquisit wie beim E-Bassisten Janno Trump, der stimmungsvolle Stücke für Klaviertrio und Streichquartett komponiert. „Kuulan Jazzi“, der Aufdruck der Festival-Shirts, bleibt als gutes Motto: „Ich höre Jazz.“