Jazzkaar Tallinn

© Angela Ballhorn

Von Angela Ballhorn. Stimmgewaltig und basslastig – so könnte man die 35. Ausgabe des Jazzkaar-Festivals in Tallinn zusammenfassen. Seit 1989 gibt es die Woche voller Jazz in der estnischen Hauptstadt, und ebenso lange wird das Festival von Anne Erm geleitet, die im vergangenen Herbst ihren 80. Geburtstag feierte.

Die singende Nation Estland hat hervorragende Sänger*innen hervorgebracht. Die in Deutschland bekannteste dürfte Kadri Voorand sein, die auf dem Festival mit den Estonian Voices einen mitreißenden Auftritt hinlegte. Das A-cappella-Sextett stellte auf der Bühne des JAIK Theaters seine neue CD Kallimale vor und belegte nachdrücklich, eines der führenden vokalen Ensembles überhaupt zu sein.

Der Schweizer Andreas Schaerer hatte sein Evolution Trio nach Tallinn mitgebracht und sang und schnalzte sich mit Kalle Kalima und Björn Meyer durch sein Singer-Songwriter-Programm. Newcomer und Shooting-Star Afra Kane stellte etwas spröde Kompositionen vor, die Portugiesin Maro mit ihren Begleitern Dario Barrosco und Pau Figueres riss das Publikum ebenso von den Stühlen wie die Brasilianerin Dora Morelenbaum. Ledisi gab dem Festival mit ihrem Nina-Simone-Programm und ihrer Powerstimme einen würdigen Abschluss. Instrumentale Stimmen wie Saxofonistin Maria Faust (im Duo mit Drummer Kresten Osgood), das Duo NoSax NoClar, Trompeter Theo Croker und Pianistin Kirke Karja bereicherten die kluge Programmzusammenstellung.

© Angela Ballhorn

Im tieftönenden Bereich war die estnische Kontrabassistin Mingo Rajandi mit ihrem Werewolves-Programm zu erleben, Janno Trump, E-Bassist und letztjähriger Jazzpreisträger, zeigte mit seiner erweiterten JT Conception, dass Funk made in Estland keinen Vergleich scheuen muss. Für seine Record-Release holte er sich den dänischen Mundharmonika-Spieler Mathias Heise in die Band, der als Gast den funky Auftritt des schillernden US Bassisten MonoNeon aufmischte. Drückende Funkgrooves mit einer umwerfenden Band – und wie immer in schrägsten Outfits mit neonfarbener gehäkelter Gesichtsmaske – brachten den Saal zum Tanzen.

Auf Snarky Puppy um ihren Gründer, Leader und – ebenfalls – Bassisten Michael League musste Estland 14 Jahre warten, so lange arbeitete das Festival an diesem Konzert. Endlich kam die Großformation auf Baltikum-Tour und sorgte für einen Run auf Tickets und fröhliche Gesichter vor und auf der Bühne. Christian McBride brachte eine junge Band mit, sein Quintett bewegte sich altersmäßig zwischen 25 und 31 Jahren, allen voran Nicole Glover am Tenorsaxofon und Savannah Harris am Schlagzeug. Seine Eigenkomposition „Bruwhaha“ und Chick Coreas viel zu selten gespieltes „La Fiesta“ rissen das Publikum zu Standing Ovations hin.

Nicht nur die großen Bühnen waren Zuschauer-Magneten, auch die kostenlosen Konzerte an verschiedensten Orten oder die intimen Studio-Gigs von unter anderem der Sängerin Rita Ray waren zumeist ausverkauft. „Small country, big jazz“, das Zitat von John Cummings, trifft auch nach 35 Jahren noch den Nagel auf den Kopf.