Brad Mehldau

Der Meister und der stille Revolutionär

Brad Mehldau 2022 © Elena Olivo

Dass er auf eine fundierte klassische Klavierausbildung zurückgreifen kann und sich auch nach seinen immensen Erfolgen als Jazzpianist einen weiten musikalischen Horizont bewahrt hat, ist nichts Neues. Auf zwei gleichzeitig erschienenen Alben widmet sich Brad Mehldau jetzt zwei grundverschiedenen klassischen Komponisten: Johann Sebastian Bach und Gabriel Fauré.

Von Guido Diesing

Zu der Spezies von Musikern, die sich ungern über ihre Veröffentlichungen äußern und sich darauf berufen, die Musik möge für sich allein sprechen, gehört er schon lange nicht mehr. Brad Mehldau macht nicht einfach Musik, er forscht, reflektiert, theoretisiert und gibt nur zu gern beredt und wortgewandt Auskunft über die Ideen und Konzepte hinter seinen Projekten. Und er hat viel zu sagen.

Die Vorgeschichte von After Bach II liegt schon länger zurück. 2017 hatte Mehldau als Auftragskompositionen Three Pieces After Bach geschrieben und zwei der drei Stücke für sein vielgelobtes Album After Bach aufgenommen. Jetzt greift er das Konzept, den Kompositionen des großen Barockmeisters eigene Stücke quasi als Kommentar oder Antwort zur Seite zu stellen, wieder auf und veröffentlicht auch das dritte der Three Pieces, eine Toccata, die auf der neuen Aufnahme fast nahtlos aus dem Präludium Nr. 6 aus Bachs Wohltemperiertem Klavier hervorgeht.

2024 © Elena Olivo

Den Ansatz, Bach als Ausgangspunkt für eigene Ideen zu nehmen, findet Mehldau naheliegend, ja fast zwangsläufig. Dass bisweilen Pianist*innen vorgeworfen wird, in ihrem Spiel seien statt Bach eher er sie selbst zu hören, kann er jedenfalls nicht nachvollziehen: „Dahinter steht die Auffassung, es gebe eine perfekte Version von Bach, nach der jeder streben sollte. Das ist eine erhabene Idee, aber ob sie richtig ist, kann wohl nie bewiesen werden. Für die gegenteilige Meinung gibt es jedenfalls viele Beispiele: Ich würde behaupten, wenn meine Lieblingspianisten Bach spielen, hört man wundervollerweise mehr von ihnen selbst als bei Werken anderer Komponisten. Das hat mit der Allgemeingültigkeit von Bachs Musik zu tun. Je mehr du dich mit Bach beschäftigst, desto sichtbarer wird unvermeidlich deine eigene Persönlichkeit. Du spielst nicht Bach – Bach spielt dich, in dem Sinne, dass er dich offenlegt. Musiker*innen lieben Bach in einer anderen Weise als andere Komponisten, weil er sie füttert. Du erfährst etwas über dich selbst – im Streben nach Schönheit, intellektuell und nicht zuletzt in deiner Rolle als Problemlöser, wenn es um die Herausforderungen des Kontrapunkts geht. Was du hervorhebst oder verwirfst, sagt viel über dich und deine musikalischen Werte aus. Du bist gezwungen, dich selbst zu prüfen.“

Mehldau versucht nicht, Bach zu verjazzen, sondern bleibt stilistisch und formal eng am Vorbild, das er dann melodisch und harmonisch erweitert und modernisiert. Er benutzt Motive, die sich bei Bach finden könnten, und setzt sie in neue Zusammenhänge. Besonders faszinierend gelingt dies, wenn er sich auf die schon im Original bewundernswert einfallsreichen Goldberg-Variationen bezieht, denen er sechs eigene Variationen hinzufügt. Ein Festival in der Schweiz hatte angefragt, ob er an der Seite etlicher weltbekannter Pianisten eine der Originalvariationen spielen wolle, was er jedoch ablehnte: „Offen gesagt, hatte ich nicht die Eier, das angesichts so vieler Klaviergiganten zu tun.“ Er schlug vor, stattdessen eine eigene Variation zu improvisieren, und bekam grünes Licht unter der Bedingung, dass diese nicht mehr als drei Minuten dauern dürfe. Für sein Album weitete er den Ansatz aus und schuf so Musik, die eine Qualität besitzt, die Mehldau auch mit Blick auf Bach hervorhebt: Sie ist ein Angebot an die Hörer*innen, selbst zu entscheiden, ob sie analytisch auf Melodien, Harmonien oder Formfragen achten oder die Musik einfach fühlen und genießen wollen.

Auf Après Fauré fällt Mehldaus kompositorischer Eigenanteil quantitativ geringer aus. In der Auseinandersetzung mit dem Komponisten, dessen 100. Todestag in diesem Jahr begangen wird, konzentriert er sich auf dessen Nocturnes, von denen Fauré über eine Zeitspanne von 36 Jahren dreizehn geschrieben hat. Mehldau entschließt sich, vom Ende auf das Gesamte zu blicken, und beginnt deshalb mit dem Nocturne No. 13, das laut dem Pianisten in seiner Tonsprache so radikal und einzigartig ist, dass es in der Musikgeschichte keine Nachahmer gefunden hat und gerade darin seine Genialität zeigt. Mehldaus Ziel ist es zu erforschen, inwiefern die Merkmale des Spätwerks schon in den früheren Werken angelegt sind. Auch von Fauré lässt er sich zu eigenen Stücken inspirieren, darunter natürlich auch ein Nocturne.

Im Booklet sinniert er über das Verhältnis zwischen Schönheit und Tod und nennt Fauré einen „stillen Revolutionär“, der lediglich das Pech gehabt habe, mit seinen Wurzeln in der deutschen Romantik nicht eindeutig dem französischen Impressionismus angehört zu haben und deshalb weniger bekannt geblieben zu sein als die Kollegen Debussy und Ravel. Mit seinen neuen Alben bestätigt Brad Mehldau die bestechende Qualität seines gesamten Schaffens: Ganz gleich, ob er sich mit Jazzstandards, Popsongs oder klassischer Musik auseinandersetzt – man kann sicher sein, dass es sich lohnt, ihn bei seinen Erkundungen zu begleiten. Interessante Anregungen und Erkenntnisse sind garantiert.

Aktuelle Alben:

Brad Mehldau: After Bach II

Brad Mehldau: Après Fauré
(Beide: Nonesuch /
Warner)