Florian Favre

Dem Himmel so nah

© Stefanie_Marcus

Im Gegensatz zu Florian Favres Solopianoplatte Idantitâ vom Januar 2022, die einem ob ihrer grollenden Düsterbässe irgendwo zwischen Beethoven und „Strange Fruit“ so manches Mal wie Blei im Magen lag, besticht die Septett-Bearbeitung ihres Repertoires durch einen tänzerisch-leichten, dabei aber auch überwältigend spirituellen Sound. Und das, obgleich das Urmaterial nicht unbedingt vor Optimismus strotzt.

Von Victoriah Szirmai

Schließlich hat sich der eigenwillige Fribourger Komponist und Pianist mit seinem abstrakte Klänge hervorbringenden, u.a. mit einer Schachtel Nägel oder einem Wörterbuch präparierten Flügel auf Idantitâ intensiv, wenn auch dekonstruktivistisch, mit dem musikalischen Erbe seiner Heimat beschäftigt. Ausgehend von der Pierre-Kaelin-Komposition „Adyu mon bi Payi“ begann Favre seine Fahndung nach ähnlichen Stücken, die er in seiner Jugend in Chören gehört hatte, wobei ihn die westschweizerische Vokaltradition bis dato nicht sonderlich interessiert hatte. Das sollte sich ändern, als er auf das Werk des 1879 in Sâles bei Gruyères geborenen Komponisten und katholischen Priesters Joseph Bovet stieß, das, obgleich für „traditionelle“ Musik vergleichsweise jung, mittlerweile Teil des kollektiven Westschweizer Gedächtnisses und seiner Chortradition geworden ist.

Auch Idantitâ Revisited, das nebst einer kurzen Zusammenfassung acht der zwölf Idantitâ-Stücke beinhaltet, wird vom Bovet’schen Œuvre entschieden dominiert, zeitigt dabei aber einen ganz anderen Grundton. Gleich beim dank Lucie Göckels Cello enorm elegischen Auftakt „La montagne_revisited“ glaubt man sich ob der erhebenden Euphoniumphrasen von Raphael Rossé hoch auf die Gipfel von Moléson oder Vanil Noir versetzt, um sich dort dem Himmel ein Stück näher zu fühlen, was die ursprüngliche Absicht des Abbé widerspiegeln dürfte.

Dass die Septettbesetzung „eine Addition sechs musikalischer Visionen“ zu jener von Favre ist, zeigt sich exemplarisch an „Adyu mon bin Payi_revisited“, das sich keinem Genre mehr zuordnen lässt. Was wie eine seltene Red-Hot-Chili-PeppersB-Seite beginnt, wandelt sich schon bald in eine Art französischsprachigen Sehnsuchtsfolkpop zwischen Jiddish Tango und Fado – nicht zuletzt das Verdienst der Singer/Songwriterin Claire Huguenin und ihrer eindrucksvollen Vokalmelismen. Vermittels dieser wird’s auch hier magenumdrehend intensiv, doch anders als bei der Solopianoversion: zweifelsfrei packend, aber nicht bleischwer. Bringt dann noch die vom tunesischen Virtuosen Amine Mraihi gerührte Oud ihre magischen Arabesken ins Spiel, transformiert sich das Ganze zurück in einen federleichten Tanz. Einmal Emotionsachterbahn rauf, runter und wieder rauf.

Der fortwährende Gestaltwandel der Stücke verwirrt, fasziniert und befreit, indem er, so Favre, „den Baum der Gewohnheiten schüttelt“ und damit eine große Unvoreingenommen- wie Offenheit herstellt. Da wäre etwa die Eigenkomposition „Don’t Burn the Witch“ im Fünfachteltakt, die ursprünglich die ländliche Haltung, Anderswirkendes abzulehnen, kritisch aufs Korn nimmt, hier aber rokokozart, fast frivol daherkommt, bis sie angesichts einer (von der quietschenden Fiedel des Fusion-Geigers Baiju Bhatt sekundierten) Spoken-Word-Tirade unnachgiebige Präsenz zeigt, um sich dann wieder im – nun nicht mehr gar so fröhlichen – Tanz zu verlieren. Dann wäre da noch das sich zunächst ins Gewand eines nahezu klassischen Chansons hüllende, so supermelodische wie wehmütige „Nouthra Dona die Maortsè“, das Sakralität satt verströmt, obgleich allein die – immer ein wenig an die lustige Truppe der 17 Hippies erinnernde – Folk-Besetzung die sich gen Schluss materialisierende heilige Wuchtigkeit der grollenden Pianobässe gründlich abpuffert.

Aufgewühlte Gemüter besänftigt das mal gravitätisch schreitende, mal bewegt hüpfende, immer eine gehörige Portion Jazz zelebrierende „Le lutin du chalet des Rêbes_revisited“, während die – nicht nur von Bovet, sondern auch von Rossini und Berlioz bearbeitete – inoffizielle Hymne der Westschweiz von 1710, „Le Ranz des vaches“, hier irgendwo zwischen Oriental Tale und „Hänschen klein“ in Moll ihre Identität sucht, nicht aber, ohne auf eine Exkursion ins Balkaneske und das von Louis Matutes Space-Gitarre kreierte Grande Finale in psychedelischen Sphären zu verzichten. Immer wieder aber ist es das Euphonium, das den Hörer an den – üblicherweise durch das Alphorn symbolisierten – Atem der Berge und damit die tiefe regionale Verbundenheit dieser Musik gemahnt, all ihrer ebenso exotischen wie exzentrischen Ausflüge zum Trotz.

„Le vieux chalet_revisited“ präsentiert sich mit leichter Hand nicht nur als eine Art Mozartlied des World Jazz, sondern vor allem als universell menschlicher Song, der in vielen Sprachen funktionieren würde. „My Cowboy_revisited“, das auf der Solopianoplatte an einen – verlangsamt schleppenden – Tanz der Zuckerfee in der Honkytonk-Spelunke erinnert, recht eigentlich aber eine Hommage an die Westschweizer Kuhhirten und damit die Cowboys im Wortsinne ist, beschwört eine selbstvergessen-sinnliche Atmosphäre herauf. Das Outro ruft durch eine sich sowohl an Mitteln wie auch an Glückspotenzial beständig steigernden Kurzzusammenfassung noch einmal die verschiedenen Stimmungen einer Platte ins Gedächtnis, die durch Sezieren, Umformen und Neuerrichten ihres Materials den ihm wohl schon von Anbeginn innewohnenden, berghoch-himmelsnah erhebenden Charakter in aller Deutlichkeit zum Vorschein bringt.

Aktuelles Album:

Florian Favre: Idantitâ Revisited (Traumton / Indigo)