Jazzkaar  Tallinn

© Rene Jakobsoni

Von Angela Ballhorn. Der Volunteer, der mich vom Flughafen abholt, arbeitet eigentlich bei Ericsson, doch für das Jazzkaar-Festival hat er sich wie schon in den letzten Jahren Urlaub genommen, um als Helfer dabei zu sein. Das ist nicht außergewöhnlich, findet er, denn die Talliner lieben ihr Festival. Die 29. Ausgabe, die die künstlerische Leiterin Anne Erm zusammengestellt hat, war besonders gelungen.

Die Jazzkaar im 100. Unabhängigkeitsjahr Estlands wurde mit einer Auftragskomposition eröffnet, die 100 Menschen aus ganz Estland in Film und Musik porträtierte. Das zehntägige Programm hatte von allem und für alle etwas: Bands aus Estland oder dem benachbarten Baltikum, bekannte und populäre Bands aus dem eigenen Land, wilde junge Bands aus Europa und Übersee, Musik zum Zuhören oder zum Tanzen und Clubsounds. Das junge Konzertpublikum begeisterte sich für die britische Band Sons of Kemet, die den Saal mit Saxofon, Tuba und zwei Schlagzeugen zum Kochen brachte, bejubelte das Pianotrio The Bad Plus mit seinem neuen Mann am Klavier, Orrin Evans, und feierte die englische Soulsängerin Laura Mvula im komplett ausverkauften Konzert. Der Auftritt des Shooting-Stars der estnischen Jazzszene, des Pianisten Kristjan Randalu, der gerade seine erste CD bei ECM veröffentlicht hat, blieb dagegen blass. Die sperrigen Kompositionen machten es den Zuhörern nicht leicht, zusätzlich schien die Band nur für sich zu spielen und nahm kaum Kontakt zum Publikum auf.

Die Musik des Trompeters Ambrose Akinmusire war nicht minder komplex, doch hier sprang der Funke schnell über. Auch die Acts, die über das Berliner XJazz-Festival nach Tallin gekommen waren, sprachen die Zuschauer an. Bei der Weltmusik des Bağlama-Spielers und Sängers Taner Akyol brauchte das Publikum etwas, um mit der Musik warm zu werden, das Trio Komfortrauschen mit lautem Techno hatte die Clubgänger dagegen sofort. Die norwegische Bassistin und Sängerin Ellen Andrea Wang hatte den Trumpf ihres Trios am Schlagzeug sitzen – was für ein Klangspektrum und eine Spielfreude Erland Dahlen verbreitete! Mein Lieblingskonzert war das des Quartetts Voorand/Koikson/Sooäär/Daniel mit dem Estnischen Philharmonischen Chor. Das Quartett mit zwei Stimmen (plus Elektronik) und zwei E-Gitarren bearbeitete die Musik des Komponisten Veljo Tormis neu, der vor allem durch seine Volkslieder bekannt wurde. Die spannenden Arrangements wurden durch den unfassbaren Chor angedickt – was für ein Klangerlebnis.

Vergleicht man die Jazzkaar mit anderen Festivals, fällt das junge Publikum auf. Zudem wird die Stadt als große Bühne für urbane Konzerte genutzt. Es werden Hauskonzerte organisiert, für die sich jeder bewerben kann, dessen Wohnung Platz für eine Band plus ein paar Zuschauer bietet, wo Kinder ums Drumset toben können und die Hausherren Kekse für die Besucher backen.

Die freundliche familiäre Atmosphäre, das Ambiente des Telliskivi Creative Centers, die kompetente Betreuung des Festivals – all das macht das Festival einzigartig.

© Raul Ollo