Jazzopen
Stuttgart
Von Harry Schmidt. Was 2022 Sting war, ist in diesem Jahr Simply Red: ein Festivaldebüt als krönender Abschluss von elf Tagen Livemusik im Herzen von Stuttgart. Das Finale der diesjährigen Jazzopen war ein Ausklang, der den Anspruch der Veranstalter unterstrich, zu den „europäischen Top-3-Festivals“ dieser Art zu zählen. 53 Konzerte auf vier kostenpflichtigen Bühnen zogen über 45.000 Besucher an (Auslastung: 90 Prozent), die eintrittsfreien Jazzopen-Stages sollen weitere 8.000 bis 10.000 Menschen erreicht haben.
Angesichts der Großereignisse auf dem Schlossplatz – Deep Purple, Madrugada, Die Fantastischen Vier, Parov Stelar, Paolo Nutini, LP, Beth Hart – wird die Diskussion, ob das Festival dem Jazz-Anteil seines Namens gerecht wird, auch mit der 29. Ausgabe nicht zum Erliegen kommen. Die strenge Unterscheidung zwischen Genres sei nie von Musikern zu hören, wandte Veranstalter Jürgen Schlensog bei der Verleihung der German Jazz Trophy an Steve Turre ein. Folgt man der Argumentation, bleibt eine überbordende Fülle an Eindrücken in einer Bandbreite, die ihresgleichen sucht. Da wäre die Fallhöhe, in die sich Grace Jones mit ihrem in jeder Sekunde an einem bis zum Zerreißen gespannten Faden hängenden Auftritt begab, getriggert von einer stickstoffgekühlten Legierung aus Disco, New Wave und Dub, mit der sie in den Achtzigern zur Ikone wurde – epochale Musik, in ihrer artifiziellen Eleganz und Schärfe unerreicht, zugespitzt in einem Live-Erlebnis von singulärer Intensität.
Oder die an Klangmagie heranreichenden Momente, mit denen Snarky Puppy im Innenhof des Alten Schlosses verblüffte. Vom Groove geleitet, bahnte sich das texanische Kollektiv einen eigenen Weg zwischen Jazz, Rock und Funk. Ausverkauft auch alle anderen Abende auf der schönsten Festivalbühne: So weit die Musik von Melody Gardot, Jools Holland, Branford Marsalis, Arturo Sandoval und Meute auch auseinanderliegen mag, stellt Jazz doch für alle eine unverzichtbare Wurzel dar. Demgegenüber lief im Sparda-Welt-Eventcenter mit Emile Parisiens Hommage an Louise Bourgeois, der Ahnenforschung von Kenny Garrett oder dem Michael Wollny Trio lupenreines Jazzprogramm, wobei hier das klinische TV-Studio-Ambiente der Location jedwede Stimmung im Keim erstickte.
Ganz im Gegensatz zum Bix, das als Club-Bühne Acts wie James Morrison, Ina Forsman und Carl Verheyen einen stilvollen intimen Rahmen bot. Vieles begeisterte, insbesondere Marius Neset, Harold López-Nussa und Salsafuerte, Showcase-Acts wie Tankus the Henge blieben die Ausnahme. Schade nur, dass echte Resonanzerlebnisse trotz begünstigender Faktoren (überwiegend attraktive Spielstätten, ein Etatvolumen, das Gestaltungsspielräume eröffnet, der Sommer in Stuttgart) Seltenheitswert haben. Zudem wirkten einige Überschneidungen unglücklich programmiert. So bleiben die Jazzopen das, was sie in den vergangenen eineinhalb Dekaden geworden sind: ein glamouröser Laufsteg für große Pop-Momente, zuweilen auch auf den Hauptbühnen mit mal mehr, mal weniger Jazz-Appeal dekoriert.
Im Vorfeld war mit harten Bandagen um die Schlossplatz-Bespielung im kommenden Jahr gerungen worden – EM-Fanfest auf der einen, bereits kommunizierter Jazzopen-Termin auf der anderen Seite. Durch die Entscheidung, mit dem Festival 2024 nach hinten zu rücken, verlassen die Jazzopen im Konflikt mit der Stadt als klügere Partei den Platz. Wenn die kulturpolitische Sensibilität auch auf die Programmarbeit übergreifen würde, könnten sie unverwechselbar werden.