Jazztopad 2018

Wrocław

Sons of Kemet © Joanna Stoga

Von Jan Kobrzinowski. Jazztopad, zweite Festival-Woche: Jamie Baums routiniertes Septet+ bringt die Kulturen zum Klingen: Jazz, Klassik, Asien und vertrackte Grooves in der Sala Czerwona, der Roten Halle des Witold Lutosławski National Forum of Music (NFM). Im Anschluss das neunköpfige Australian Art Orchestra mit Kompositionen des Trompeters und Leaders Peter Knight sowie der eigenwilligen Pianistin Andrea Keller, die indigene Songlines heraufbeschwören – einer der spannendsten Acts des Jahres 2018. Kein Drum Battle ist Hamid Drakes Treffen mit dem AAO-Schlagzeuger Simon Barker, sondern Improvisation als menschliche Interaktion mit allen Risiken – es gibt Standing Ovations. Avishai Cohen (tp) gerät danach mit seinem offenbar unzureichend vorbereiteten Jazz-Rock-Projekt Bigger Vicious ein wenig unter die Räder seiner eigenen Ambitionen. Schade.

© Slawek Przerwa

Nachts gibt es im Jazz-Keller des Cafés Mleczarnia hochbrisante Reisen in die freie Improvisation. Festival-Künstler tauchen auf, selbst der sonst eher verschlossene Brad Mehldau zeigt kurz seine Free-Form-Seiten, nachdem er in der glamourösen Großen Halle mit der NFM Filharmonia Wrocławska die Uraufführung seines Klavierkonzerts präsentiert hat, ein romantisch inspiriertes Werk, mit dem Mehldau erneut seine Liebe zur klassischen Musik kundtut, nachdem er in einem Solo-Set souverän den Bogen von Bach zu Radiohead bis hin zu selteneren Standards gespannt hat. Später zelebriert Novembre, das Quartett des französischen Saxofonisten Antonin-Tri Hoang, im Keller messerscharf komponierten Jazz, woraufhin wieder bis in die Nacht gejammt wird, initiiert von den Sundogs, einem lokalen Trio fulminanter Improvisatoren. Wo Mateusz Rybicki (cl), Zbigniew Kozera (b) und Samuel Hall (dr) auftauchen, spürt man inspirative Kraft; ihr Feuer entfacht andere. Die Australier und weitere lokale Musiker klinken sich ein und fördern Unerhörtes zu Tage, etwa eine unglaubliche Klangreise mit dem unermüdlichen Hamid Drake durch hypnotische Gnawa-Grooves bis in freie Soundscapes.

Anderntags nähert sich im NFM das italienische Quartett Roots Magic der afroamerikanischen Musikgeschichte mit kurzen augenzwinkernden Kabinettstückchen. Alles gehört irgendwie zusammen: New Orleans und Free Jazz, Pee Wee Russell und Ornette Coleman, alter Blues und Roscoe Mitchell. Amir ElSaffar mit dem Lutosławski Quartet, Wacław Zimpel und Ksavery Wójciński erforschen in einer gelungenen experimentellen Suite die Welt der Mikrotonalitäten und ihrer rhythmischen Entsprechungen. Beeindruckend an Esperanza Spalding ist vor allem die faszinierende Unabhängigkeit von Bassspiel und Stimme. Warum versteckt sie ihre Musikalität und Präsenz zeitweise hinter Bad-High-School-Girl-Attitüde? Pianist Alexander Hawkins, im zweiten Teil ihr Duo-Partner, steuert mit virtuosen Soli ein wenig dagegen. Am Wochenende lädt Festivalchef Piotr Turkiewicz tagsüber zu privaten Wohnzimmerkonzerten bei jazzbegeisterten Bürgern ein. Lokale und Festival-Musiker treffen sich zu Echtzeit-Musik, von Gestaltung von Geräuschen bis zu Instant Composing. All das macht Jazztopad zu einem der spannendsten Ereignisse der internationalen Festivalsaison.