Kama Kollektiv

Hoffnung verbreiten

Kama Kollektiv © BalansLaB

Rückblickend führen vermeintliche Fehler manchmal zu zunächst ungewollten Entscheidungen, die sich aber im Nachhinein als richtig und wegweisend entpuppen. So wie bei Kirsi Harju, die über einen Umweg zu ihrem Instrument fand. Oder das Instrument zu ihr?

Von Thomas Bugert

Eigentlich wollte die Finnin, wie viele andere Kinder in ihrem Alter, Geige lernen. Da es an der Schule jedoch nur begrenzte Kapazitäten für dieses Instrument gab, musste eine kleine Aufnahmeprüfung absolviert werden, um einen der begehrten Plätze zu bekommen. Dabei war sie jedoch so nervös, dass sie aufgrund vieler Fehler durchfiel. Sie landete in der Bläserklasse und bekam eine Pocket-Trompete zugewiesen. Eine glückliche Fügung, wie sich herausstellen sollte. So konnte sie herausfinden, dass die Trompete viel besser zu ihr passte als die Geige. Über den Chor in der Schule entdeckte sie die Stimme als zweites Instrument, und ihre Liebe zu Chet Baker brachte sie dazu, wie er, beides zu kombinieren.

Auch wenn es, wie Harju sagt, die gleiche Musik sei, die durch sie fließe, gebe es für sie doch Unterschiede, ob sie eine Melodie singe oder mit der Trompete spiele. Dieser Unterschied sei schwer in Worte zu fassen. „Ich versuche immer, ein Instrument für etwas zu sein, das größer ist als ich selbst, in diesem Fall durch die Musik. Es ist etwas, das durch mich fließt, und hoffentlich drückt es einige Aspekte aus der Quelle all dessen aus, der Liebe. Zwischen beiden Instrumenten gibt es für mich nicht so viel Unterschied. Es ist die gleiche Energie und Musik, die durch mich fließt. Ich bin das Instrument“, erzählt sie und ergänzt, dass sich das Singen für sie manchmal etwas natürlicher anfühle.

Für ein Musikstudium zog Harju nach Amsterdam, wo sie das Kama Kollektiv gründete. Jonathan Nagel (b) und Yoad Korach (dr) gehören dabei zur festen Stammbesetzung. Auf dem Klavierhocker ist derzeit Jetse de Jong zu finden. Wie es sich für ein Kollektiv gehört, sind die Mitmusiker mehr als nur Begleiter, erklärt Harju: „Wir machen viele Sachen zusammen. Ich organisiere eine Menge Dinge und frage die Band immer nach ihrer Meinung. Mir ist es wichtig, dass sich jeder in der Band wohlfühlt und dass sich jeder mit dem Projekt identifizieren kann.“ Transparenz und Klarheit über Prozesse und Gedanken spielen bei dem Kollektiv eine große Rolle. Bei der genauen Ausarbeitung der Kompositionen und Arrangements gibt es für alle Mitglieder die Möglichkeit, sich kreativ einzubringen. Am Ende muss es jedoch jemanden geben, der die Entscheidungen trifft, erzählt die Bandleaderin und ergänzt: „Wenn wir beginnen, Musik zu machen, tritt alles andere in den Hintergrund. Ich finde das wundervoll.“

Kama hat beim Kama Kollektiv nichts, wie man vielleicht vermuten mag, mit hinduistischem Gedankengut zu tun. Es gibt dieses Wort auch im umgangssprachlichen Finnisch, wo es für „kleine Dinge“ verwendet wird. Diesen kleinen Dingen aus dem Alltag widmet sich das Kama Kollektiv musikalisch in seinen Kompositionen. „Wie wir unsere Körper gestalten und manipulieren, um unsere äußere Erscheinung unseren Traumvorstellungen anzupassen“, ist so ein „kleines Ding“, dem sich das Kama Kollektiv in „Maybe“ widmet. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas begegnet die Band diesem Kama mit Leichtigkeit, Witz und Ironie.

Ein anderes kleines Ding sind Gedanken, Distanz und Heimweh, die Harju im „Distance Song“ verarbeitet. Erfahrungen, die sie durch ihren Umzug von Finnland in die Niederlande machte. Hörbar ist diese Veränderung durch den Wechsel der Tonart mitten im Stück, wie sie erklärt. Man kann den Titel, der minimalistisch mit einer Solo-Trompete beginnt, bevor die Band einsetzt, auch als einsamen Aufbruch hören, den Harju unternahm, bevor sie die Mitglieder des Kollektivs fand. Es ist aber auch gut möglich, ganz andere Assoziationen beim Hören des Titels zu haben. Auch wenn Storytelling für die Komponistin einen großen Stellenwert hat, ist sie sich bewusst, dass Menschen Melodien unterschiedlich hören und dadurch auch andere Bilder in ihrer Gedankenwelt entstehen. Es geht dabei weniger um ein Richtig oder Falsch, sondern vielmehr darum, dass überhaupt Bilder und Assoziationen entstehen. Fließende Rhythmen, über denen sich Melodien langsam entwickeln, sind eine Klammer, die die Musik des Albums zusammenhält. Sie laden den Zuhörer ein, seine Gedanken mit dem Flow des Albums treiben zu lassen oder sich auch über die Texte mit den kleinen Dingen zu beschäftigen.

Neben der Bandleaderin steuerte auch Jonathan Nagel einige Kompositionen bei. Der gebürtige Deutsche, der mittlerweile auch in Amsterdam lebt, setzt sich in „Inventing Memories“ mit Umzug, verschiedenen Orten und Erinnerungen an seine Kindheit auseinander. Folgt man dem musikalischen Verlauf des Titels, so scheint es ein energetisch groovendes Leben mit Pausen zum Innehalten und Wundern zu sein. Ein Leben, in dem auch das Träumen einen Stellenwert hat. Über seine Komposition „Phlegmatic Escapism“ sagt Nagel: „Durch eine monotone und sich ständig wiederholende Melodie, die über einem hektischen Beat schwebt, wird die Zeitempfindung extrem gedehnt, und es entsteht ein Traumzustand, so als wenn man während einer Zugfahrt aus dem Fenster schaut und die Landschaft endlos an sich vorbeifliegen sieht.“

Neben Alltagserfahrungen finden auch Lyrik und Philosophie Eingang in die Musik des Kollektivs. „Once to Scar Me for Life“ basiert auf einem Gedicht, das Nagel nach einer flüchtigen Begegnung mit einer Unbekannten schrieb: „Es war zwar nur ein sehr kurzes Treffen, aber es führte dazu, dass ich über diese spezielle Person und über das Leben im Allgemeinen nachdachte. Kirsi Harju bekam Anregungen zum Nachdenken durch Haemin Sunims Buch Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst, das sie während der Pandemie las und das sie zu „I Wish You Could See My True Nature“ inspirierte. „Es ist sehr philosophisch, liefert aber keine konkreten Antworten, sondern lässt vieles offen. So wie bei meinem eigenen Ich, das ich letztlich auch nicht wirklich kenne“, erzählt sie.

Vieles scheint in der Pandemie ungewiss, und es ist unklar, wie die Welt danach sein wird. Das Kama Kollektiv blickt jedoch zuversichtlich in die Zukunft. Der Albumtitel Toivo, den man mit Hoffnung übersetzen kann, spiegelt diese Zuversicht. Musikalisch minimalistisch beginnend, steigert sich der Titelsong energetisch langsam und behält dabei trotzdem eine gewisse Leichtigkeit. Kurz scheint die Stimmung ins Düstere zu kippen, wird aber von der positiven Grundstimmung zu Beginn des Titels wieder aufgefangen. Am Ende wechselt das bis dahin instrumentale Stück in einen Chor. „Wir singen zusammen. Singend zusammen zu sein, ist eine kraftvolle Erfahrung und fühlt sich gut an“, sagt Harju und ergänzt: „Wir fanden es wichtig, Hoffnung zu verbreiten.“

Aktuelles Album:

Kama Kollektiv: Toivo (Berthold Records / Cargo)