Kamasi Washington

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Straight Outta Leimert Park

War es Schicksal, Karma oder Kismet oder war der Mann einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Als Kamasi Washington 2015 mit seinem Doppelalbum The Epic an die Öffentlichkeit ging, konnten sich wirklich alle auf seine Musik einigen.

Von Eric Mandel

Im selben Jahr war der Saxofonist zu Gast auf Kendrick Lamars Album To Pimp a Butterfly. Und so pilgerten zu seinen Konzerten bald junge Spotify-Hipster, dem federführenden Brainfeeder-Label treu ergebene HipHop-Heads und alte Jazzhasen, die in Washingtons Ton die Stimme John Coltranes und Pharoah Sanders’ erkannten. Selbst sie mussten zugeben, dass der Tenorist aber durchaus eigene Geschichten zu erzählen hat. Damit hatte er erreicht, was Miles Davis immer wollte: Jazz in den Rahmen einer universellen schwarzen Populärmusik der USA einzubetten.

Vor allem die Verbindung zwischen Jazz und HipHop, die seit Herbie Hancocks Rock It einen Haufen vieldiskutierter Einzelfälle hervorgebracht hat, manifestiert sich nun formvollendet in der erstaunlichen Breitenwirkung seiner Musik. Das ist für ihn alles andere als erstaunlich. „Jazz und Blues sind wie alle anderen Ausdrucksarten afroamerikanischer Kultur miteinander verbunden“, hebt er an und führt aus: „Blues ist der Opa, Jazz der Vater und HipHop der Sohn. Sie kommen voneinander und sie kommen zueinander zurück. Egal ob Dr. Dre oder Battlecat, Jay Dilla oder Madlib, sie alle waren tief drin im Jazz. So hat Jazz die Musik zu jeder Zeit beeinflusst. Allerdings hat er jetzt die Möglichkeit, hinter dem Vorhang hervorzukommen und in seiner rohen Form erlebbar zu sein.“

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In diesem Sinne integriert auch Fearless Movement personell ein weites Spektrum: George Clinton und Thundercats Blubberbass repräsentieren zwei Generationen Funk, BJ the Chicago Kid steht für Motown und R&B, Ras und Taj Austin stehen fürs Rap-Gewerbe. Washingtons während der Covid-Zeit geborene Tochter erfand nach ersten Gehversuchen ans Klavier eine Melodie, die er zum Thema des Songs „Asha the First“ erhob – kein übler Ohrwurm! Und mit André 3000 ist ein Künstler dabei, der jüngst die Limitierungen des Geschäfts hinter sich ließ, indem er statt eines lang erwarteten Rap-Albums meditative Flötenmusik veröffentlichte.

Das passt gut zum Oberthema des Albums, und das ist nach Washingtons Erzählung Tanz und Bewegung: „Meine Tante Lula Washington ist Tänzerin, eine Legende auf ihrem Gebiet. Leute denken bei Coltranes Musik nicht an Tanz, aber ich sah Menschen zur hochexpressiven Musik von Coltrane, Ornette Coleman und McCoy Tyner tanzen. Ich schreibe tatsächlich gerade Musik für Ballett, aber auch hinter Fearless Movement steht die Idee der Bewegung. Über den Tanz hinaus meine ich auch den Mut, dahin zu gehen, wohin dein Geist dich führt, auch wenn das Veränderung bedeutet. So wie bei André“, lacht er und fügt hinzu: „Oder bei mir, als ich Vater wurde. Tanz und Musik können dich den Fallgruben und Hindernissen des Lebens entheben. Mein Album ist ein Weg, das zu tun.“

Das neue Album beginnt mit einem äthiopischen Thema und endet mit einer Adaption eines Stücks von Astor Piazzolla. Dazwischen zeichnet sich ein weiterer Einfluss ab: die Stadt L.A. Für Europäer ist dieser kulturell mitunter widersprüchliche Ballungsraum immer noch schwer zu überblicken. „Es sind ja auch praktisch zehn Städte“, räumt Washington ein, „und jede hat ihre eigene Kultur.“ Er selbst stammt aus South Central L.A., einer Gegend, die wir vor allem mit Gangs, Rap und Crack assoziieren. Tatsächlich drehte John Singleton seinen Film Boyz n the Hood nicht weit vom Haus der Washingtons entfernt.

Kamasis erstes selbstgekauftes Album war ein Tape von NWA, aber er wuchs auch mit der Plattensammlung seines Musikervaters auf. Seine Künstlerfamilie war Teil jener kulturellen Renaissance, die ihre Wurzeln im Wattstax-Festival von 1972 hat. Auf die Frage, wo sich diese Bewegung aus (Free) Jazz, Tanz, Poesie und Bildender Kunst in der Stadtlandschaft von South Central erhalten habe, holt er zu einer epischen Stadtführung aus. „Die Kultur, das war für uns Leimert Park – eine fast magische Insel der Aufklärung in einer der gefährlichsten Gegenden von L.A. Dort gab es Musiker, Poeten, Künstler, Tänzer, Buchläden und Akademiker, die auf der Straße Schach spielten. Es waren nur ein paar Straßenzüge mit einem Jazz-Club, einem HipHop-Club, einem Blues-Club, einem Comedy-Club, mit Galerien und Off-Theatern. Einer der Läden gehörte Billy Higgins. Da hatten wir einen Platz, unseren Ausdruck zu finden. Damals dachten Leute bei L.A. an Hollywood, an kommerzielle Kunst, aber hier passierte Underground. Wenn du nicht von hier warst, bist du da auch nicht hingekommen. Das gab uns eine gewisse Freiheit, denn es hat sich niemand um uns gekümmert. Hier konntest du keinen Karriereschub erwarten, hier ging es um die Kunst. Heute kommen zum Leimert Park Jazz Festival Tausende. Aber damals passierten unglaubliche Sachen nur für eine Handvoll Leute. Du konntest zu einer Session gehen, da spielten Horace Tapscott, Billy Higgins, ein Bassist, der erst seit einer Woche Bass spielt, und ein Trompeter, der eigentlich Flöte spielt. Und alle Arten Musik mischten sich, von Gospel bis Rap. Da gab es eine Menge Querbefruchtungen, und in dieser Offenheit wuchsen wir auf mit der Auffassung: Du musst real sein. Du musst an die sakrale Natur der Musik glauben. Und du musst jeden Stil spielen können.“ Wenn es also einen richtigen Ort und eine richtige Zeit gab, dann war das wohl Leimert Park am Beginn des Jahrtausends. Und mit diesem Heimatkunde-Solo, das seine Musik besser erklärt als jede Analyse, verabschiedet er sich.

Aktuelles Album:

Kamasi Washington: Fearless Movement (Young / Xl / Beggars Group / Indigo, VÖ: 3.5.)