Keith Tippett
Die Magie der Musik
In den späten 60ern, frühen 70ern gab es am Donnerstagabend im BBC-Fernsehen immer nur ein Thema: die Top of the Pops. Miniberockte Fans umgarnten die Moderatoren und tanzten zur Musik. Die Bands spielten nicht wirklich live, sondern mimten zum Playback. In der Ausgabe vom 25. März 1970 erklang „Cat Food“ von King Crimson. Die Single erreichte zwar nirgends im UK die Charts, aber der Auftritt genügte, um die Nation auf einen wilden und kompromisslosen Pianisten aufmerksam zu machen, der für die folgenden 50 Jahre zu einer einzigartigen Figur der britischen Musik werden sollte: Keith Tippett.
Von Sebastian Scotney
Gerade 22 Jahre alt, war Keith Tippett bereits ein Rising Star in der Welt des Jazz und dessen, was man damals Progressive Rock nannte. Der Begleittext zu seinem ersten Album als Bandleader You Are Here … I Am There brachte es auf den Punkt: „Eine Sache steht fest: Er kann wirklich spielen.“ In einem Interview von 2016 erinnert er sich an diese Zeiten: „Die Londoner Szene war in den späten 60ern und frühen 70ern im Fluss, nicht nur im Jazz und in der improvisierten Musik. Ich arbeitete mit Leuten wie Robert Wyatt und seiner Band Symbiosis, mit Robert Fripp und King Crimson – und natürlich mit Julie [Driscoll], die meine Frau wurde.“ Ein gewaltiges 50-köpfiges Ensemble namens Centipede (der Name bezieht sich auf die 100-beinige Besetzung) fand sich 1970 zusammen. „Es entstand aus Unschuld und Freundschaft“, so Tippett, und bestand aus Mitgliedern von King Crimson, Soft Machine, Nucleus und Streichern der Royal Philharmonic, dazu freien Improvisatoren und einem südafrikanischen Kontingent von den Blue Notes. Allesamt spielten das erste Live-Konzert gerade mal für ihre Spesen.
Klavierspielen war nur ein Teil dessen, was Tippett dazu beitrug. „Er war“, so sein Promoter und enger Freund Nod Knowles, „Performer, instrumentaler Virtuose, Innovator, Komponist, Improvisator, Arrangeur, Bandleader, Sideman, Mitarbeiter, Lehrer und Mentor, einer dieser seltenen, magischen, kompletten Musiker.“ Tippetts Musizieren umgab immer diese völlig eigene, spezielle Atmosphäre. Gern sprach er über die Magie, die vereinende Kraft, das Gute an der Musik, und war bekannt für quasi-philosophische Statements: „Unser Job als Musiker ist es, die Zuhörer für einen Gig lang aus der chronologischen Zeit zu entführen.“ Manchmal konnte allerdings gerade dieses Außerirdische, dennoch Zielgerichtete an seinem Ansatz das Leben durchaus kompliziert machen. Mir wurde berichtet, dass die Leitung in einem der Colleges, in denen Tippett unterrichtete, vor ihm in ihre Büros flüchtete. Ein Promoter erzählt die Geschichte von einem Klavierstimmer des Hauses Steinway, der kam, während Tippett gerade ganz sachte ein Plastik-Krokodil vor dem Konzert auf die Klaviersaiten legte, und sagte: „Es ist Ihnen nicht erlaubt, das Piano zu präparieren!“ Tippetts hochmütige Antwort: „Wie kommen Sie darauf? Ich präpariere nie irgendetwas – es ist alles improvisiert!“
Keith Tippett war der idealistischen Ansicht, dass Menschen, die Musik hören, einen heiligen Raum betreten. Ohne Kompromisse wollte er seine humanistischen und musikalischen Ziele erreichen. Nicht immer wurde sein Format anerkannt und ihm der Respekt gezollt, den seine Arbeit verdiente. In dieser Hinsicht ist er sicher nicht ganz allein. In Großbritannien behandeln wir unsere nationalen Schätze nicht immer sehr gut. Durchweg loyale Ausnahmen waren für Tippett das Plattenlabel Discus und der in Turin ansässige Promoter Riccardo Bergerone. Eines der Highlights der Amtszeit von Richard Williams beim JazzFest Berlin war die Aufführung das Spätwerks The Nine Dances of Patrick O’Gonogon.
Als Lehrender war Keith Tippett in erster Linie durch seinen inspirierten Unterricht im Royal Welsh College in Cardiff sowie an den Sommerschulen in Dartington/Devon bekannt. Die Reaktionen auf seinen Tod am 14. Juni, die große Emotionalität, Dankbarkeit und vereinzelte Tränen in den Augen ehemaliger Schüler waren herzerwärmend. Auch für Dave Stapleton von Edition Records, der ihn als sein Student in Cardiff erlebt hat, waren Tippetts Einfluss und Charisma unvergesslich: „Er war ein Musiker von großer Originalität, als Komponist brach er alle Regeln, verirrte sich aber nie bei dem, was er erreichen wollte. Es war Keith, der mir erlaubte, mich ohne Einschränkungen auszudrücken, der mir die Ohren für Chancen und Möglichkeiten geöffnet hat. Er hat mich sehr beeinflusst, und ich bin mir sicher, dass Musik ohne ihn nicht die Rolle in meinem Leben gespielt hätte, die sie heute spielt. Dafür danke ich ihm.“
Die Sängerin Ana Juliet Silvera erinnert sich an die fruchtbare Umgebung, die Keith Tippett erschuf: „Aufgrund des fürsorglichen Ansatzes von Keith und Julie, sichere Räume zu schaffen, habe ich in seinen Sessions wunderbare Freunde gewonnen und bin so für immer von einer besonderen Gemeinschaft von Menschen umgeben, die mit ihm gelernt haben.“ Die Pädagogin Roshi Nasehi betont die zentrale und entscheidende Rolle, die er bei der Gestaltung ihrer Karriere gespielt hat: „Sein Ansatz, Klassen zu leiten, war das perfekte Modell für einen Großteil meiner Arbeit. Keith war in der Lage, aus dem Unterrichten einer Klasse einen Akt der Gastfreundschaft zu machen.“
Die Spuren, die Keith Tippett in der Musik in Großbritannien hinterlassen hat, sind tiefgreifend und nachhaltig.
Übersetzung: Jan Kobrzinowski