Kinan Azmeh
To jazz or not to jazz? Völlig wurscht!
Kinan Azmeh mag es nicht besonders, über seine Nationalität eingeordnet zu werden. Klar ist es verführerisch, genau das zu tun: Der Damaszener in New York, das verspricht Vierteltöne, hochkomplexe Rhythmik und faszinierende Exotik – da wird das Herz des Jazzers weich. Doch was sagt die Herkunft über Azmehs Musik? Wenig.
Von Ralf Döring
Azmeh lebt seit zwei Jahrzehnten in New York, hat bei Charles Neidich klassische Klarinette studiert, und erst in dieser Zeit hat er begonnen, sich professionell mit arabischer Musik zu befassen. Nein, die syrische Herkunft ist nicht der Schlüssel zu Azmehs Musik. Wenn er erzählt, ist Azmeh aber doch der Mann aus Damaskus. Denn er spricht mit der Bildkraft und der Poesie der arabischen Welt. „Gemeinsam ein paar Noten zusammen zu spielen, ist wie eine Mahlzeit zu teilen.“ Damit meint er kein pflichtversessenes Business-Lunch, sondern die fruchtbare Zusammenarbeit mit der NDR Big Band für das gemeinsame Album Flow. „Man kennt einander nicht, aber sobald man die ersten Töne miteinander gespielt hat, ist man sich nicht mehr fremd.“
Tatsächlich belegt jedes der acht Stücke auf dem Album, wie harmonisch Dinge zusammenfließen können, die unsere Kulturwelt so gern in unterschiedliche Schubladen sortiert. Um im Bild vom gemeinsamen Mahl zu bleiben: Das Album beschert Drei-Sterne-Küche, bei der alle Komponenten aufs Feinste zusammenspielen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Im Jazz spielt die Klarinette kaum noch eine Rolle, und wenn, dann meist in Form der Bassklarinette (auf dem Album liefert Luigi Grosso ein Beispiel). Und dann ist Azmeh eigentlich klassischer Klarinettist, und was für einer!
Der Eröffnungstrack, „Clarinet Concerto“, offenbart aber sofort, wie müßig solche Kategorisierungen sind. Dreieinhalb Minuten lang stellt Azmeh sich und sein Instrument vor, treibt eine Melodie sanft fließend und poetisch, aber nachdrücklich nach vorn. Er schleift Töne an, baut mit kleinen Ornamenten rhythmische Pattern ein; irgendwann tupft Florian Weber, der neue Pianist der NDR Bigband, raue Akkorde und kristalline Tonsprengsel in die Tastatur. Das korrespondiert herrlich mit dem fülligen, runden und so klaren Ton der Klarinette, und es ist nicht zu überhören, dass die beiden sich von diversen Duo-Abenden bestens kennen. Vor allem aber offenbart Azmeh in diesem Prolog das Wesen seiner Musik: Es ist nicht Arabien, nicht Jazz, nicht Klassik, es ist alles von dem – die Elemente fließen ineinander. Das Album heißt ja nicht zufällig Flow.
Tatsächlich hat Azmeh das „Concerto“ für das Seattle Symphony Orchestra geschrieben. Für die NDR Bigband hat er den Mittelsatz ausgekoppelt, und Wolf Kerschek hat daraus ein Stück für Bigband gemacht. Überhaupt ist der Arrangeur und in diesem Fall auch Bandleader das Bindeglied zwischen Azmeh und der Bigband, denn er hat die Kompositionen für diese Zusammenarbeit eingerichtet. Kerschek das Mastermind des Projekts zu nennen, ist sicher nicht übertrieben. Seine hohe Kunst besteht darin, Azmehs Stücken nichts überzustülpen, sondern sie gewissermaßen von innen heraus für die Bigband zu adaptieren. Deshalb knallt die Band nicht mit Count-Basie-Wumms ins Geschehen, sondern betritt diskret den Raum, den Azmeh und Weber eröffnet haben. Erst mal. Denn dann darf die NDR Bigband schon die Muskeln spielen lassen, bauen sich Drive und Spannung auf.
Nun ist Azmeh, wie gesagt, kein syrischer Musiker, sondern zutiefst westlich geprägt. Aber er hat sich mit der Musik des östlichen Mittelmeerraums beschäftigt, so wie er sich mit klassischer Musik und mit Jazz beschäftigt – der Mann nimmt auf, was er für wichtig und inspirierend erachtet. Entsprechend vielfarbig ist schon das Ausgangsmaterial für Flow – und Kerschek ist ein Meister darin, diese Vielfalt herauszuarbeiten. Er fächert die reichen Ornamente, die Azmeh der Musik seiner Heimat entnommen hat, harmonisch auf und passt ihnen einen jazzgemäßen Dress an. Aber auch da fließen die Grenzen wie feiner Satin: In der fünften Nummer, „Daraa“ schichtet er eine rhythmisch-melodische Ebene nach der anderen um Azmehs Klarinettenpart, und zum Posaunensolo von Stefan Lottermann sprießt dann plötzlich ein Minimal-Music-Gärtchen. In „Jisreen“ vervielfältigt sich Azmehs melancholisches Thema polyphon, und manchmal ist die Bigband auch einfach Bigband, mit Bläsersätzen in voller Pracht. Aber immer in flirrender Raffinesse.
Nun ist die NDR Bigband eine Ansammlung profilierter Solisten. Und wenn Dan Gottschall (in „The Little Red Riding Hood“) an der Posaune, Frank Delle am Tenorsax und Ingolf Burkhard am Flügelhorn („Jisreen“) oder auch – eine besondere Farbe – Schlagzeuger Bodek Janke, der zur Tabla wechselt; wenn Solisten dieses Formats ihrer Kreativität Sporen geben, kann man ermessen, warum Azmeh so großen Respekt empfindet, mit dieser Band zusammenzuarbeiten. Er bezeichnet sich selbst ja ausdrücklich nicht als Jazzer.
Da spielt allerdings eine Portion Understatement mit hinein. Denn er ist das Herz dieser Produktion, und er weiß den Raum zu nutzen, den die Band und Kerscheks Arrangements ihm einräumen. To jazz or not to jazz? Völlig wurscht. Kinan Azmeh ist ein wunderbarer Improvisator, ein geistvoller Musiker und Komponist. In Flow schenkt er uns acht epische Erzählungen voller überraschender Wendungen; um es mit David Foster Wallace zu sagen: ein unendlicher Spaß.
Aktuelles Album:
Kinan Azmeh & NDR Bigband: Flow (Dreyer Gaido / Note 1 Musikvertrieb)