Kinan Azmeh

© Maik Reichert

Von der Lage unter dem Himmel

© Connie Tsang

Der Himmel ist nicht immer heiter und blau-weiß. Aber er zeigt auch nicht nur depressives Grau oder bedrohliches Schwarz. Der Himmel, dessen Musik Kinan Azmeh komponiert und spielt, ist abwechslungsreich, ungleichmäßig, überraschend – und er verändert sich ständig.

Von Hans-Jürgen Linke

Der Himmel ist natürlich eine Metapher, und vielleicht sollte man hinzufügen, dass Kinan Azmeh nicht den religiösen Himmel meint, denn der hieße auf Englisch „heaven“. Kinan Azmehs Doppelalbum trägt den Titel Uneven Sky. Weil Azmeh in Damaskus, der Hauptstadt Syriens, geboren wurde, wäre ein durchaus naheliegender Kurzschluss, den uneinheitlichen Himmel für den Anlass einer Flüchtlingsklage zu halten. Es ist aber wahrscheinlicher, dass er das Leben unter einem solchen ungleichmäßigen Himmel nicht als erzwungen, sondern auch als verlockend empfindet.

Kinan Azmeh präsentiert sich auf dem Doppelalbum in doppelter künstlerischer Kontur – als Interpret und als Komponist. Er ist ein herausragender Klarinettist, dem auf seinem Instrument alles an Artikulationsweisen und Nuancen zur Verfügung steht, was im 21. Jahrhundert gebraucht wird, um musikalisch satisfaktionsfähig zu sein. Als Interpret hat er für sein Album drei Klarinettenkonzerte von Landsleuten eingespielt, wobei das Wort Landsleute insofern wörtlich zu nehmen ist, als sie, wie er, keine unbeweglich festen Wurzeln in ihrer arabischen Heimat haben, sondern kulturell polyvalent sind.

Der älteste der drei Komponisten ist Dia Succari, der in Aleppo geboren wurde, in Paris studierte und unter anderem bei Olivier Messiaen Kompositionsunterricht hatte. Seine dreisätzige Suite für Orchester und Klarinette bildet den Abschluss des Albums und ist ein Werk von eigensinnig spätromantischem Zuschnitt. Aus der Ferne lässt es den fein nachklingenden poetischen Einfluss des Katholiken Messiaen erkennen: Satztitel wie „Parole des Abîmes au Soleil“ (Rede der Abgründe an die Sonne) oder „Parole de l’Arbre au Vent“ (Rede des Baumes an den Wind) erinnern ein wenig an Messiaens großes Klang-Welttheater-Orchesterstück Des canyons aux étoiles (Aus den Canyons zu den Sternen). Dia Succaris Musik vermeidet nicht Pathos, behält dabei gleichwohl einen meditativen, eher schwelgerischen als opulenten Charakter und bleibt tonal vieldeutig. Seine Musik wirkt ebenso intensiv von Ravel oder Messiaen inspiriert wie von arabischen Referenzen. Und Kinan Azmehs Solisten-Arbeit an der Klarinette ist von angespannter Aufmerksamkeit und hoch differenzierendem emotionalem Nachdruck gekennzeichnet.

Die beiden anderen Klarinettenkonzerte – Kareem Roustoms Adrift on the Wine-Dark Sea und Zaid Jabris lapidar Concert for Clarinet and Orchestra genanntes 20-Minuten-Werk – sind eher im 21. Jahrhundert zu Hause, und zwar auf pointiert spätromantische Weise. Die Orchestersprache erinnert auch hier an das frühe 20. Jahrhundert. Das mag damit zusammenhängen, dass diese atmosphärisch intensiven und metrisch vieldeutigen Klangwelten sich gut für die Zeichnung ambivalenter Klanglandschaften eignen. Beide, Roustom und Jabri, arbeiten mit einer präzise austarierten stilistischen Offenheit.

Die erste CD des Doppelalbums aber hat Kinan Azmeh für eigene Musik reserviert. An zweiter Stelle findet sich dort eine dreisätzige Suite, die dem in Spanien geborenen frühmittelalterlichen Sufi-Philosophen Ibn Arabi gewidmet ist. Er gilt als historische Schlüsselfigur eines spirituellen, anti-orthodoxen und freiheitlichen Islam und war als lebenslang Reisender ein idealtypischer Bewohner des ethnisch und religiös vielgestaltigen mediterranen Raumes zwischen der Iberischen Halbinsel und dem Nahen Osten, eines Landes unter einem überaus uneinheitlichen Himmel. Bei diesem Werk ist außer dem Solo-Klarinettisten Kinan Azmeh auch die syrische Sängerin Dima Orsho zu hören.

Als Auftragskomposition für die Elbphilharmonie Hamburg entstand das fünfteilige The Fence, the Rooftop and the Distant Sea (Der Zaun, das Hausdach und das entfernte Meer), ein Werk, das vom Titel her durchaus in Hamburg angesiedelt sein könnte, das aber 2016 in Beirut entstand. Es ist ein sehr fragil wirkendes, dialogisches Stück, in dem sich der sonore, raffiniert differenzierte Klarinettenklang mit einem ebenso volltönenden und klanglich abwechslungsreichen Cello verbindet. Kinan Azmehs Duo-Partner ist hier der international renommierte Yo-Yo Ma. Und auch er weiß einiges über uneinheitliche Himmelssituationen mitzuteilen.

Dass Kinan Azmeh nicht nur klassisch ausgebildeter Klarinettist und origineller zeitgenössischer Komponist ist, sondern in seiner Brust auch eine Improvisatoren-Seele wohnt, die manchmal Jazz spielen will, zeigt er in der dreiteiligen Suite for Improviser and Orchestra, die kaum eine Unterscheidung zwischen improvisierten und komponierten Linienwerken erkennen lässt, im Orchester auch eine quirlige Perkussionsgruppe beschäftigt und nach stilistischen Stationen in Harlem, New York City, und Damaskus in einen ausgelassenen, festlichen Tanz einmündet. Denn auch, wer nicht unter vertrautem Himmel weilt und vielleicht sogar von dort geflohen ist, ist nicht unbedingt heimatlos.

Aktuelle CD:

Kinan Azmeh, Yo-Yo Ma, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Manuel Nawri: Uneven Sky (Dreyer Gaido / Note 1 Musikvertrieb)