Mari Boine & Bugge Wesseltoft

Vertraute Fremde

© Knut Bry

Von Angela Ballhorn

Nach ihrem englischsprachigen Album See the Woman von 2017 singt Mari Boine auf dem Nachfolger Amame wieder fast ausschließlich auf Sami, der Sprache des indigenen Volkes im Norden Skandinaviens. Für das neue Projekt hat sich die Sängerin ihren Landsmann Bugge Wesseltoft ins Studio eingeladen. Der Pianist untermalt Boines hypnotische Gesänge mit sparsamen und luftigen Melodielinien und Akkorden.

Dass so viel Zeit ins Land gegangen ist, bis ein neues Album erschien, erklärt Mari Boine mit familiären Gründen: „Ich habe zwei Enkelkinder, die jetzt zwölf und vierzehn Jahre alt sind. Ich habe nicht aufgenommen, weil ich Zeit mit ihnen verbringen wollte. Mein englisches Album ist von 2017, mein letztes Sami-Album von 2009. Das ist lange her. Aber ich war mit meinen Enkeln in der Natur unterwegs, habe Sami mit ihnen gesprochen und ihnen unsere Kultur weitergegeben.“

Amame ist ein leises, verletzliches Album. Die Kombination mit Bugge Wesseltofts Klavierspiel lässt Mari Boines eindrücklicher Stimme viel Raum zur Entfaltung. „Ich liebe das Klavier und wollte schon lange ein Album mit ihm und speziell mit Bugge machen. Ich wollte meine Verletzlichkeit ausdrücken, wollte nah und intim sein. Das passt perfekt zu Bugges Klavierspiel. Er kann sehr kraftvoll spielen, seine größte Gabe sehe ich jedoch im Leisen und Sparsamen.“

Eigentlich hatte die Sängerin ein Album mit ihrer Band geplant. Die Arbeit war schon in vollem Gange, als die Corona-Pandemie die Welt traf. Sechs Leute samt Produzent in einem Raum – das war weder möglich noch erlaubt. „Nach allem, was in der Welt passiert, und speziell nach Corona brauchte es etwas Beruhigendes. Ich brauchte etwas Meditatives, das mich zum Nachdenken bringt. Ich glaube, dass eine Menge Heilung in der CD steckt. Weil ich nicht mit meiner Band arbeiten konnte, habe ich Bugge gefragt, ob ich ihm meine Kompositionen schicken dürfe. Wir haben uns in seinem Studio in Oslo getroffen, als es wieder erlaubt war, und es war toll, alles zusammenzubringen.“

Der Titeltrack ist eines der seltenen Liebeslieder von Mari Boine. Der Text beschreibt das Gefühl, jemanden zu treffen und den Eindruck zu haben, der Person schon einmal begegnet zu sein. „Ein Fremder, der vertraut ist“, könnte eine der Sami-Textzeilen übersetzt werden. Der Titel „Amame jávkat“ bedeutet „Damit wir nicht verblassen“. Mari Boine erklärt; „Ich liebe meine Sprache. Ich finde es schade, dass sie verschwindet. Als ich nach einem CD-Titel gesucht habe, wollte ich etwas nicht so oft Verwendetes, zu dem ich eine Geschichte erzählen kann.“

„If Tomorrow’s Mine“ ist der englischsprachige Ausreißer in der sonst komplett in Sami-Lyrik gehaltenen CD. Nicht nur die Sprache, auch die komplette Klangwelt ist anders als das übrige Album. Aus kongenialen sparsamen Klavierakkorden wird eine fröhliche Keyboardlandschaft. „Das Stück ist älter. Wie auch der Text zum ersten Song auf See the Woman ist er von der australischen Poetin Donna Williams geschrieben worden. Ich wollte einen englischen Song haben, weil ich mit vielen Sprachen aufgewachsen bin – mit Finnisch, Sami, Norwegisch und auch Russisch, weil Sami-Land auf verschiedene Länder aufgeteilt ist. Manchmal sprichst du Finnisch, wechselst zu Sami und dann zu Norwegisch – das ist ziemlich normal für die Gegend, in der ich groß geworden bin. Ich fordere mein Publikum gerne heraus und zeige, dass es möglich ist, nicht nur in einer Sprache zu leben. Ich mag es, dass Bugge den Song anders macht. Wir wollten nicht das ganze Album in leisen Tönen haben.“

„Mu oappá niegus / My Sister‘s Dream“ ist der einzige von Bugge und Mari gemeinsam geschriebene Song des Albums. Die Sängerin bekam einen Klavier- und Drumtrack vom Pianisten geschickt und komponierte dazu. Der Song hat Naturklänge wie Hundegebell im Hintergrund und klingt fast so, als wäre er draußen aufgenommen worden. „Die Natursounds wurden von einem Sami-Techniker aufgenommen. Das war Bugges Idee. Er wollte diese Sounds dabeihaben, er liebt den Klang des Sami-Lands.“

„My Head Holds High the Horned Hat“ ist ein bisschen leichter als die anderen Kompositionen geraten. Mari Boine hat das Stück für zwei Frauen geschrieben, die zu weiblichen Kopfbedeckungen forschen. „Viele Hüte wurden von den Missionaren verboten, weil angeblich der Teufel darin wohne. Aber wir brauchen mehr denn je Leute, die mit der Natur verbunden sind, vielleicht sogar dringender als die Wissenschaftler. Das Wissen der indigenen Völker ist wichtig, und es wäre schade, wenn es verlorenginge.“ Um das Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Wissens zu stärken, geht Mari Boine vielfältige Wege. 2021 hielt sie auf der Innovationskonferenz TED eine Rede mit dem Titel „Unshaming my indigeous heritage“, zuletzt trat sie in ungewöhnlichem Umfeld beim Heavy-Metal-Festival Midgardsblot auf.

Mit Amame ist Mari Boine und Bugge Wesseltoft ein leises Album gelungen, das laut und lange im Zuhörer nachhallt.

Aktuelles Album:

Mari Boine & Bugge Wesseltoft: Amame (By Norse Music / Membran)