In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Vince Mendoza & Metropole Orkest

Olympians

Modern / Warner

5 Sterne

Orchestraler Jazz at its best, das ist, was man von Vince Mendoza erwartet. Und das löst Olympians auf neun Originalen, die der US-amerikanische Komponist und Arrangeur während seiner 27-jährigen Zusammenarbeit (!) mit dem niederländischen Metropole Orkest geschrieben hat, auch vollumfänglich ein. Und mehr als das: In „Esperanto“ glänzt die grandiose Dianne Reeves mit einem Gastauftritt, „House of Reflections“ wird von Cecile McLorin Salvant interpretiert. Die Grande Dame des Jazzgesangs singt einen Songtext von Kurt Elling, ihre designierte Nachfolgerin einen der britischen Jazz-Ikone Norma Winstone. Damit nicht genug: Enorm funky und mit packendem Groove ist „Big Night“ eines der Highlights. In „Lake Fire“ gelingt die Synthese von Wasser- und Feuermusik in einer sinfonischen Jazzrhapsodie, mit dem Auftakt „Quixote“ eine Art Latin-Jazz-Walzer. Für „Barcelona“ wurden Tenorsaxofonist Chris Potter und Weather-Report-Alumnus Alex Acuña ins Studio gebeten, was erst gegen Ende dann umso reifere Früchte trägt. Eine Liveaufnahme vom ersten Auftritt in Amsterdam nach der Pandemie ist „Bright Lights and Jubiliations“. Betörend hier wie im gesamten Verlauf des auch dramaturgisch exzellent konzipierten wie gestalteten Albums die Streicher des Metropole Orkest. Komplett umwerfend: „Partido Alto“ auf Bernard-Herrmann-Augen- und -Fallhöhe, Cello-Solo inklusive. Rundum bestechende Platte.

Harry Schmidt

Sebastian Gramss States of Play

Urschall – Repercussions

rent a dog / A!ive

5 Sterne

Nein, nicht Urknall, sondern Urschall, das ist etwas ganz anderes. Obwohl man nicht weiß, was. Etwas Abgespacetes ist es schon, wie das Cover nahelegt. Am besten nimmt man sich für diese Musik etwas Zeit – möglichst mehr als die knapp 44 Minuten CD-Spieldauer. Sebastian GramssFormation States of Play steht, nach vorübergehender Halbierung der Band auf Sextett-Größe bei den Meteors, wieder in voller Doppel-Sextett-Größe da und unternimmt erneut eine weite Reise. Es gibt in GramssMusik nicht nur ungemein vielgestaltige Wege, Ordnungen und Klangideen, es gibt auch Zusammenhänge. Urschall ließe sich lesen als eine Fortsetzung der Aufforderung „Come by … and see what we’ve done“, mit der das Meteors-Album endet. Der Größe der Formation entspricht das Gewicht der Musik und die Zeit, die sie sich nimmt, um zurückzublicken, vorauszuahnen und die klingende Gegenwart bedachtsam zu gestalten. Sebastian Gramss fasst das Komponieren offenbar immer nachdrücklicher als Formulierung kritischer Gedanken über die Welt auf das begann mit dem Projekt Hard Boiled Wonderland und bestätigt sich fortschreitend mit States of Play. Es gibt keine intelligenten Scherze mehr, keine mitreißende Ironie und keine Ideen, die um ihrer selbst willen geäußert werden. Stattdessen gibt es Musik voller Kontraste, wohlkalkulierte Schichtenbildung, in die Tiefe gehende Klangkonstellationen. Und kein fröhlicher Überschwang, kein gefälliger Groove, kein leuchtender Schönklang, nirgends. Hier ist alles ernst gemeint. Die Band gibt dem, was da ausgedrückt werden will, mit großer Kompetenz und Disziplin ein nachdrückliches Gewicht, souveräne Ruhe und sorgfältige Formulierungen und Artikulationen. Die Musiker, die Gramss hier zusammengebracht hat, müssen keine stilistischen Grenzen respektieren. Alle arbeiten mit einer enormen Präsenz an der und für die Musik.

Hans-Jürgen Linke

Gebhard Ullmann

Hemisphere 4

JazzHausMusik / Galileo

4 Sterne

Musikalische Lebenswege können manchmal recht erstaunlich sein. Saxofonist Gebhard Ullmann studierte einst an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, spielte in einer Bluesband und nahm Unterricht bei David Liebman. Ein reichhaltiger Background, der heute kaum noch erkennbar ist in seiner Musik. Unorthodoxe Ideen ziehen sich quer durch Hemisphere 4 vom kreativen Prozess bis hin zum Endprodukt. Ist es Jazz? Ist es atonale Musik? Allein die Besetzung trotzt jeder Kategorie: Er selbst spielt sämtliche Holzblasinstrumente, Liz Kosack bedient die Keyboards, Taiko Saito setzt zarte Akzente auf dem Vibraphon und Silke Lange komplettiert am Akkordeon die Quartett-Besetzung – all diese Instrumente werden gehörig gegen den Strich gespielt. Mit anderen Worten: Weder Akkordeon noch Vibraphon oder Ullmanns Bassklarinette sind beim oberflächlichen Hören als solche erkennbar. Wer nun von schwer verdaulicher Avantgarde-Musik ausgeht, ist aber ebenfalls auf dem falschen Dampfer. Die Klänge haben oft sphärischen Charakter, auf jede Art von Perkussion wird verzichtet. Die Musik hat überhaupt keinen Beat, klingt aber erstaunlich harmonisch. Mit der Bassflöte zitiert Ullmann auf „Impromptu #1“ folkloristisch wirkende Melodien. Dagegen gerät „Hörfilm mit Maschinen“ zu einem bizarren Thriller. „Area Two“ dagegen spielt ironisch mit Versatzstücken aus Swing, Free Jazz und Expressionismus. Oft ist die Grenze zwischen Musik und Geräusch fließend. Musik, die ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt.

Andreas Schneider