Matthew Herbert
Was würde das Pferd wollen?
Ein Pferd ist ein Pferd. An dieser Feststellung gibt es wohl nichts auszusetzen. Für den britischen Komponisten und Produzenten Matthew Herbert jedoch ist ein Pferd viel mehr als ein Pferd. Ein Pferd ist eine Sinfonie. Nach so komplexen Werken wie One Pig oder The State Between Us begibt sich der anspruchsvolle Klangphilosoph nun auf The Horse einmal mehr ins Dreieck zwischen Klassik, Jazz und elektronischer Musik, um an den Grundfragen der menschlichen Existenz zu rütteln.
Von Wolf Kampmann
Am Anfang hört man nur Knochen klappern. Hat sich da eine alte Schindmähre zu Tode galoppiert? Mitnichten. Matthew Herbert ließ sich ein komplettes Pferdeskelett kommen, um es zu Instrumenten zu verarbeiten. Flöten, Perkussionsinstrumente, eine Lyra und vieles mehr. Auf diese Weise will er einem der ältesten Begleiter des Menschen eine Stimme geben. Doch damit nicht genug, er zog prominente Jazzmusiker wie Shabaka Hutchings, Evan Parker, Danilo Pérez oder Seb Rochford hinzu und arbeitete mit dem London Contemporary Orchestra, um das gigantische Vorhaben umzusetzen.
Darüber hinaus besuchte er Höhlen in Spanien mit den ältesten bekannten Pferdedarstellungen der Menschheitsgeschichte, um deren Ambiente einzufangen, und sampelte Tausende von Pferdegeräuschen. Dass die Arbeiten an diesem Megaprojekt von der ersten Idee bis zum fertigen Album nicht mehr als sieben Monate brauchten, mutet wie ein Wunder an. „Ich hätte lieber zwei oder drei Jahre Zeit gehabt“, seufzt ein erschöpfter Matthew Herbert, „denn dieses Projekt war wirklich kompliziert und schwierig. Aber vielleicht hilft das Tempo ja, ein solches Werk überhaupt umzusetzen. Ich war gezwungen, auf eine ganz andere Weise über die Ursprünge unserer Kultur und Zivilisation nachzudenken. Hätte ich mehr Zeit für das Projekt gehabt, hätte ich mich auch leicht verlieren können. Am Ende ging es mehr ums Tun als ums Denken.“
Was hier womöglich wie eine hohle Phrase klingt, war in der Kürze der Zeit eine Einsicht in die grenzenlose Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel. Herbert tastete sich Schritt für Schritt voran. Ohne viel im Voraus zu planen, entstanden die Konzepte während der Arbeit. „Ich suchte einen befreundeten Instrumentenbauer auf“, erinnert sich Herbert, „und fragte ihn, ob er mir aus den Beinknochen Flöten bauen könne. Er verneinte, baute sie aber trotzdem. Dann fragte ich Shabaka Hutchings, ob er darauf spielen könne. Shabaka meinte: ,Mal sehen.‘ Wir setzten uns mehrere Stunden zusammen, er spielte, ich hörte ihm zu und nahm seine Sachen auf. Daraus lernte ich viel für das Projekt. Es gab eine ähnliche Session mit Seb Rochford, von der ich wieder andere Dinge lernte. Für mich war das wie ein Handwerkslehrgang. Auf dieser Platte geht es um Materialien: Knochen, Haut, Haar. Kinder lernen am besten, indem sie spielen. So fühlte es sich auch für mich an. Ich habe komplettes Neuland betreten und wusste überhaupt nicht, was auf mich zukommt. Das kann man nicht planen.“
Man kann die Musik auf The Horse auf zweierlei Art hören. Entweder man weiß nichts über den Kontext. Dann ist es eine interessante Reise von einer rituellen Beschwörung über Ambient-Sounds zu einer kompakten Sinfonie. Oder man verinnerlicht den Hintergrund und Prozess der Entstehung, und plötzlich wird es ein ganz anderes Stück Musik, denn man hört ein Pferd. Das kann man vor dem kulturphilosophischen Background geschmackvoll finden, oder man kann es in die Ecke von Gunther von Hagens’ Körperwelten stellen und als eklig und anmaßend ablehnen. Unberührt bleibt man in keinem Fall. „Es passieren ja immer zwei Dinge nebeneinander“, so Herbert. „Da ist einerseits die Geschichte der Instrumentierung, die von Knochenflöten bis zu Samples und Midi-Triggern reicht. Die andere Geschichte besteht aber darin, das Pferd durch Musik wieder zum Leben zu erwecken. Auch diese Geschichte teilt sich wieder in zwei Stränge auf. Einmal dieses spezielle Pferd, das ein Rennpferd war. Gleichzeitig symbolisiert dieses eine Pferd aber jedes andere Pferd in der Welt. Dieses Pferd erzählt die Geschichte, wie alle Pferde von uns missbraucht und ausgebeutet wurden. Sie mussten seit Jahrtausenden Dinge tun, die sie unter normalen Umständen wohl nie getan hätten. Es war nicht einfach, eine Balance zwischen all diesen Dingen zu finden. Letztlich zählte für mich nur die Frage: Was würde das Pferd wollen?“
Gemessen daran, dass ihm das Tun übers Denken geht, macht sich Matthew Herbert sehr viele Gedanken über die metaphorischen Ebenen seiner Komposition. Das Pferd steht für unser Verhältnis zur Natur. „Was wir heute als Natur wahrnehmen, ist oft nur noch reine Illusion. Wir haben die totale Kontrolle über die Natur. Wir glauben zwar, wilde Pferde zu sehen, aber es gibt keine wilden Pferde mehr. Selbst jene Pferde, die frei durch die mongolische Steppe rennen, stammen von domestizierten Pferden ab. Die echten Wildpferde haben wir längst ausgerottet. Aber steckt die Erinnerung an die Freiheit und Wildnis nicht in unseren Knochen? Letztlich geht es auf diesem Album um den Dualismus von Freiheit und Kontrolle.“
Aktuelles Album:
Matthew Herbert: The Horse (Modern Recordings / Warner)