Megaphon

Von Hans-Jürgen Linke

1979 kam ein wunderbar heiterer Film über ernste Angelegenheiten in die Kinos: Monty Python’s Life of Brian. Der Film machte sich unter anderem über Haltungen lustig, die man seinerzeit in Deutschland aus Soziotopen der sogenannten K-Gruppen kannte. Das war ein Sammelbegriff für engstirnige, an Schlagworten und Sprechblasen orientierte Arten der Politisierung, die gemeinsam und gegeneinander eine schreckliche Ausgrenzungssucht produzierten, mit intellektuell bescheidenen Mitteln wie simpler Worterkennung. Eine der Filmszenen zeigt eine Steinigung. Eigentlich soll ein munterer alter Mann gesteinigt werden, weil er den Namen Gottes missbraucht habe. Die Sache läuft aus dem Ruder, weil es im steinigenden Publikum übereilige Steinwerfer*innen gibt. So dass der Hohepriester (John Cleese) Ordnung schaffen muss: „Niemand hat irgendjemanden zu steinigen, bevor ich in diese Pfeife geblasen habe, habt ihr verstanden? Selbst wenn, und ich möchte, dass das absolut klar ist, selbst wenn irgendjemand ‚Jehova‘ sagt!“. So findet der Hohepriester unter einem riesigen Findling sein schnelles Ende, schließlich hat er „Jehova“ gesagt.

Solche Vorgänge sind immer noch oder sogar zunehmend Realität, auch in der Musikszene. Da wird zum Beispiel in Kiel im FahrradKinoKombinat (FKK) das Konzert der Band Analogue Birds kurzfristig abgesagt, weil der Bandleader Didgeridoo spielt und damit angeblich kulturelle Aneignung betreibt. Der Bandleader der Analogue Birds kann ausführlich und stichfest begründen, warum das Spielen dieses Instruments keine kulturelle Enteignung ist, aber er hat es nun mal offenbar mit Leuten zu tun, die ungern mehr als ein, zwei Worte am Stück lesen. Aber ist es wirklich so, dass sich politische Korrektheit gerade zu einer karikaturhaften Cancel-Culture und exzessiven kulturellen Bevormundung entwickelt? Gerade der Jazz konnte und kann auf Grenzüberschreitungen und Aneignungen nie verzichten, wie übrigens jeder halbwegs vernunftbegabte Homo sapiens.

Genug davon. Es gibt noch andere alarmierende Entwicklungen, etwa im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die ARD plant wieder mal eine dieser Reformen, die alles schlanker, stromlinienförmiger, dem privaten Dudelfunk ähnlicher machen soll: Zusammenlegungen, Reduzierung des Sendevolumens, Entdifferenzierungen, Verringerung von Konzert-Mitschnitten und von Autor*innen-Sendungen – immer dasselbe. Der Jazz ist nicht das einzige, aber wieder einmal eines der fast zwangsläufigen Opfer dieser Pläne Und einmal mehr fragt man sich, wozu man eigentlich Gebühren zahlt, wenn man dafür kaum etwas kriegt, was einen deutlichen Unterschied zum Privatgedudel ausmacht. Die Deutsche Jazzunion, und nicht nur sie, hat einen Aufruf gestartet („Kein öffentlich-rechtlicher Rundfunk ohne Jazz!), den man unterzeichnen kann, und sicher kann man noch mehr tun.

www.deutsche-jazzunion.de/kein-rundfunk-ohne-jazz

In die gleiche verflachende Richtung gehen Reformpläne beim Bayerischen Rundfunk. Eine Initiative von Künstler*innen sieht „Kulturkiller“ am Werk und rechnet vor, was da alles zur Disposition steht – an Themen, an Sendezeit. Auch wenn der Programmdirektor Kultur abwiegelt, erkennt die Initiative mit guten Gründen die Konturen einer Medienpolitik, die „gegen die im Medienstaatsvertrag festgeschriebene besondere Rolle der Kulturberichterstattung in den Programmen des Bayerischen Rundfunks“ gerichtet ist.

Conny Bauer © Georg Krause

Erfreulich dagegen sind Preise, besonders (aber nicht nur) für die Preisträger. Da ist zum Beispiel Konrad „Conny“ Bauer, Posaunist und Exponent des freien deutschen Jazz, geboren in Halle an der Saale und, wie John Corbett findet, „eine der radikalsten originalen Stimmen in der improvisierten Musik.“ Endlich erhält er den Albert-Mangelsdorff-Preis, und wenn die Welt nicht so ungerecht wäre, gäbe es längst einen genauso renommierten Conny-Bauer-Preis. Den natürlich nicht er bekommen könnte. Gratulieren wir also zunächst Conny Bauer. Die Preisverleihung findet im Rahmen der Berliner Jazztage statt.

Noch mehr Preise gefällig? Bitte: Marko Mebus, Bandleader, Komponist, Arrangeur und Trompeter, erhält den Wormser Jazzpreis. Der ist von Bürgern der Stadt finanziert, mit 5000 € dotiert und wird im Zwei-Jahres-Rhythmus vergeben.

B

Pirouet Records © Konstantin Kern

Und dann Kathrin Pechlof, Komponistin, Harfenistin, Musikdenkerin, Bandleaderin und seit Jahren eine enorm wichtige Persönlichkeit der Berliner Szene. Sie bekommt den renommierten SWR-Jazz-Preis. Womöglich ist sie die erste Harfenistin, die mit ihm geehrt wird. Das Preisträgerinnenkonzert findet, vermutlich in Trio-Besetzung (mit Christian Weidner, sax, und Robert Landfermann, b), im Rahmen des Enjoy-Jazz-Festivals statt, wenn das Festival eigentlich schon zu Ende ist, als eine Art Zugabe am 14.11. im Kulturzentrum Das Haus in Ludwigshafen.

http://swr.li/swr-jazzpreis-2023-pechlof-presse

Als hätte sich ein zynischer Weltgeist das ausgedacht, ist im September, nur einige Wochen später als Peter Brötzmann, Jost Gebers gestorben, der das irgendwie unsterbliche Tonträgerlabel FMP, Free Music Production, mitbegründet und über mehr als zwei Jahrzehnte in Gang gehalten hat. Mehr zu Gebers im Nachruf in dieser Ausgabe.

© Wilfried Heckmann

 

Aber wenn es auch manchmal so aussieht: Vielleicht nicht ganz alles Gute geht in diesen Monaten zu Ende. Zum Beispiel gibt es im neuen Jahr in Darmstadt einen Neubeginn. Wolfram Knauer, seit Menschengedenken Leiter des unentbehrlichen Jazzinstituts, hat sich entschlossen, sich alt genug für ein Pensionärsdasein zu fühlen. Die Institutsleitung übernimmt (einen Tusch bitte! Und noch einen!) Bettina Bohle aus Berlin. Sie hat sich dort einen Namen gemacht unter anderem als Geschäftsführerin der IG Jazz und als Projektleiterin des seit Langem projektierten House of Jazz und will sich in Darmstadt dafür einsetzen, „die Bedeutung des Jazz und der improvisierten Musik als wichtige Stimme in allgemeinen Kulturdebatten weiter zu stärken“. Möge die Übung gelingen!

Curtis Fowlkes ist gestorben. Der New Yorker war Posaunist, Sänger und Komponist, war Mitglied bei John Luries Lounge Lizards, Mitbegründer der Jazz Passengers, arbeitete mit Art Blakey, Gunter Hampel, Bill Frisell, Marc Ribot und in Charlie Hadens Liberation Music Orchestra. Er wurde nur 72 Jahre alt.

© Hans Kumpf

 

Wolfgang Engstfeld, geboren 1950 in Düsseldorf, begann als Vierzehnjähriger, sich mit dem Saxofon zu befassen, studierte in Düsseldorf und Graz und gehörte in den 70er Jahren zur wegweisenden deutschen Jazzrock-Formation Jazztrack mit Sigi Busch (b), Uli Beckerhoff (tp), Heinrich Hock (dr) und zunächst Michael Herr, später Christoph Spendel (kb). In den 80er Jahren war er vorwiegend mit dem Trio Engstfeld-Plümer-Weiss unterwegs. Von 1992 – 2016 hatte er eine Saxofon-Professur in Köln. Wolfgang Engstfeld ist im September gestorben.

Im domicil in Dortmund ist noch bis zum Jahresende die sehr empfehlenswerte Ausstellung „The Look of Jazz – Women in Jazz“ mit Fotos von Frank Schindelbeck zu sehen.

https://domicil-dortmund.de/

© Lutz Voigtländer


Die Dresdener Jazztage gehören längst zu den größten Festivals im Lande: 38 Spieltage lang dauert das Ereignis, nämlich vom 20.10.-26.11., und bietet in dieser Zeit 80 Konzerte an 23 Spielstätten, die über die ganze Stadt und darüber hinaus verteilt liegen. Demnächst zum Beispiel David Helbock im Ostra Dome (9.11.), Iiro Rantala in den Ostra-Studios (11.11.), Candy Dulfer im Ostra Dome (12.11.) oder Günter Fischer mit Uschi Brüning in den Ostra-Studios (17.11.). Ob das im nächsten Jahr so weitergehen kann, ist leider noch nicht klar, es fehlt nicht an künstlerischer Relevanz und Publikumszuspruch, aber möglicherweise an Förderung. Wir drücken Dresden die Daumen.

www.jazztage-dresden.de/

Die Bigband des Norddeutschen Rundfunks, kurz NDR Bigband, spielt im Chor der professionellen deutschen Bigbands die erste Stimme, falls es die im Jazz gibt. Sie war nach dem Auslaufen der Rundfunk-Tanzorchester die erste, die unter Dieter Glawischnig ein eigenständiges, in zeitgenössischem Jazz fundiertes und von kreativen Musikern getragenes Konzept setzte und das Weiterleben der Formation in künstlerisch respektablen Umständen ermöglichte. Die NDR Bigband wurde jetzt beim Annual Critics Poll des Magazins DOWNBEAT in der Kategorie Big Band unter die besten 20 des Planeten gewählt. Die 20 klingt nicht unbedingt nach einer Sensation, aber man bedenke, dass DOWNBEAT ein US-amerikanisches Magazin ist, was den unverstellten Blick auf das alte Europa ein wenig, sagen wir, erschwert.

© Hans Kumpf

 

Den Jazz-Preis des Landes Baden-Württemberg erhielt in diesem Jahr die 27-jährige Pianistin und Komponistin Clara Vetter aus Sinzheim. Der Jazz-Preis Baden-Württemberg ist mit immerhin 15.000 € einer der bestdotierten Nachwuchspreise für Jazz in Deutschland. Clara Vetter hat bereits 2022 den Kompositionswettbewerb des Bundesjazzorchesters gewonnen, hatte einen Kompositionsauftrag für die Stuttgarter Jazztage, leitet das Clara Vetter Collective und arbeitet in der norwegisch-deutschen Band Letters from Nowhere. Im März 2023 veröffentlichte sie ihr Album Live in Cologne.

Richard Davis, geboren 1930 in Chicago, war ein Kontrabassist, über den Greil Marcus einst im ROLLING STONE schrieb, er spiele den besten Bass, der je in einer Rockband zu hören gewesen sei. Davis arbeitete mit Eric Dolphy, Jaki Byard, Elvin Jones, Joe Henderson und Miles Davis, aber auch für Frank Sinatra und Van Morrison. 1977 erhielt er den Ruf an die University of Wisconsin-Madison, wo er Improvisation, Jazzgeschichte und Kontrabass lehrte. Er starb nach zwei Jahren im Hospiz im Alter von 93 Jahren.

In den späten 1990er Jahren setzte er sich manchmal eine Clownsnase auf und nannte sich Streets the Clown. Er war dann nicht mehr Charles Gayle und konnte als sein Alter Ego von den 15 Jahren erzählen, die er als obdachloser Free-Jazz-Saxofonist in New York verbracht hatte. Missachtungen und Misshandlungen, Rassismus – aber auch eine unbegrenzte Freiheit, alles zu tun und zu lassen und Saxofon zu spielen. Es war wohl Peter Kowald, der ihn für die Bühne entdeckte. In Ebba Jahns Film Rising Tones Cross ist er zu hören. Ab Ende der 1980er Jahre arbeitete er für Plattenlabels wie Black Saint und FMP, spielte mit Rashied Ali, Cecil Taylor oder Sunny Murray. Am 7.9. ist er mit 84 Jahren in New York gestorben.

Ein paar Wochen noch, dann wird Ed Kröger 80 Jahre alt. Geboren in Flensburg, aufgewachsen in Cuxhaven, spielt er Klavier und Posaune und hat sich kreativ zwischen Bop und Freejazz getummelt, hat mit Manfred Schoof, Gerd Dudek, Albert Mangelsdorff, Christof Lauer und Wolfgang Lackerschmid gearbeitet und war an den Musikhochschulen in Hamburg und Hannover als Dozent tätig. Hoch soll er leben, aber wir gratulieren noch nicht, das bringt abergläubigen Menschen kein Glück.

Auch Tonträgerfirmen haben Geburtstage. Die Deutsche Grammophon (DG) zum Beispiel wird 125 Jahre alt. Gegründet wurde sie am 6.12.1898 von Emil Berliner und seinem Bruder Joseph in ihrer Geburtsstadt Hannover. Wie alle Firmen dieser Branche hat sie eine bewegte Geschichte hinter (und vielleicht auch vor) sich, die dazu geführt hat, dass die Deutsche Grammophon nur mehr eine Marke ist, die seit 1998 zur Universal Music Group gehört. Viele Hände wollen also gratulationshalber geschüttelt sein. Bei der DG sind Werke vieler Komponist*innen der Gegenwart erschienen, etwa von Sofia Gubaidulina, Peter Eötvös, Luigi Nono und Philip Glass. Das Jubiläumskonzert am 6.12. im Berliner Konzerthaus wird dirigiert von Joana Mallwitz, und eine virtuelle Ausstellung zeigt die Kunst des Schallplatten-Covers am Beispiel von Produktionen der DG.

www.dg-125.com/

Überhaupt, was für ein schönes altes Wort: Schallplatte! Und Schallplattenpreis! Und dann noch „Kritik“. Kurz und knackig zusammengefasst: Preis der deutschen Schallplattenkritik. Der sich so nennende Verein hat seine Jahrespreise 2023 vergeben, für das Jazzmagazin Ihres Vertrauens relevant ist wohl vor allem der Preis für das Album London Brew (Concord Jazz / Universal) der Formation um Nubya Garcia, Theon Cross und Shabaka Hutchings, dann ganz bestimmt noch die Monika Roscher Bigband für Witchy Activities and the Maple Death (Zenna / Membran), eventuell auch The Düsseldorf Düsterboys für das Album Duo Duo (Staatsakt / Bertus). Alle Jahrespreise unter

www.schallplattenkritik.de/jahrespreise/2023

Sieben Künstlerinnen, Musikunternehmerinnen und Projekte erhielten im Rahmen des Hamburger Reeperbahn-Festivals den Kritiker*innenpreis VIA des Verbandes der Unabhängigen Musikbranche (VUT). Die Indie-Pop-Musikerin CATT wurde als bester Act und für ihr Album Change gleich zweimal ausgezeichnet, das Berliner Duo Brutalismus 3000 wurde in der Kategorie „Best Newcomer“ gewählt. In der Kategorie „Bestes Label“ gewannen 365XX und Fun in the Church. Den Preis für „Best New Music Business“ erhielt die Mannheimer Firma Cyanite, die ein KI-basiertes Musiksuchsystem entwickelt hat. „Bestes Experiment“ wurde das Musik-Video-Projekt „Sprich mit mir“. Und ein Sonderpreis für besondere Verdienste um die unabhängige Musikbranche ging an Friedel Muders.

Das beste Jazzmagazin weit und breit, auch wenn es dafür gerade keinen Preis gegeben hat, ist übrigens das, das Sie gerade lesen. Wie es kommt, dass es dieses Magazin, genannt JAZZTHETIK, überhaupt gibt, seit wann das der Fall ist, was für Ideen und Motive dabei ausschlaggebend waren und warum es nach über 36 Jahren immer noch existiert – darüber gibt es ein frisches Interview mit unserer Herausgeberin und Verlegerin Christine Stephan. Das Europe Jazz Network hat es im Rahmen der Reihe „Women to the Fore“ publiziert auf seiner Website unter der Adresse

www.europejazz.net/womentothefore-7-christine-stephan

Und das ist noch längst nicht alles. Das Europe Jazz Network vergibt seinen „Award for Music & Community“ an die Initiative B:Music in Birmingham für bahnbrechende Arbeit an sozialer Integration. B:Music arbeitet in der Birmingham Town Hall und Symphony Hall, bietet dort Initiativen und Workshops zur barrierefreien musikalischen Talententwicklung für junge Menschen und entwickelt dabei neue Arten des gemeinsamen Lernens und der Neugier auf neue Musik.

https://bmusic.co.uk


Ein ungerades Jahr geht zu Ende, und wenn ein gerades Jahr anbricht, gibt es in Münster nicht das große Internationale Jazzfestival, sondern nur das kleine, genannt Shortcut. Verpassen sollte man es auf keinen Fall, und bald gibt es auch mehr Informationen dazu.

www.jazzfestival-muenster.de