Oona Kastner

Kassandra

Sie ist eine Schamanin, die mindestens ein Jahr in die Zukunft sehen kann. Mit Stimme und Electronics erschafft sie Welten, die – einmal entworfen – nicht mehr wegzudenken sind. Ein sanftes Labyrinth der verstörenden Voraussicht.

Von Wolf Kampmann

Als die Sängerin Oona Kastner ihr Album Live Solo Vol. 1 aufnahm, war die Weltlage noch eine ganz andere als heute. Europa war in eine Flüchtlingsdiskussion verstrickt, vom Klima wurde auch gesprochen, aber dieses Thema spielte eine untergeordnete Rolle. Ein Jahr später ist das Klima – lange überfällig – das alles dominierende Thema, das zumindest hierzulande entscheidend den Ausgang der Wahl zum Europa-Parlament bestimmt hat. Fridays for Future und der von Rezo angeführte Protest der Youtuber-Szene verändern nachhaltig den politischen Diskurs. All das konnte die Bielefelderin nicht wissen, als sie von März bis Oktober 2017 die Aufnahmen für Live Solo Vol. 1 produzierte. Dennoch klingt das Album wie ein trefflicher Kommentar zur aktuellen Weltlage. „Die Triebkraft für meine Musik der letzten Jahre ist der innige Wunsch, in der Welt, wie wir sie gerade erleben, wie eine Mahnerin, eine Kassandra über die Musik hinaus etwas zu geben“, hält sie fest. „Meine Musik soll keinesfalls unterhalten, sondern eher anstrengen und provozieren.“

Darüber, ob Oona Kastners Schöpfungen anstrengend sind oder nicht, kann man sicher geteilter Meinung sein. Menschen mit Depressionen ist vom allzu intensiven Gebrauch ihrer düsteren Visionen vielleicht abzuraten, und wer auf den schnellen Endorphinausstoß aus ist, wird hier schwerlich auf seine Kosten kommen. Doch ihre vokalen Dystopien entfachen auch einen Sog, der im besten Fall auf Trance hinauslaufen kann. Dabei stammen sämtliche Songs der CD von drei anderen Autoren. In drei separaten Sessions hat sie jeweils Lieder von Leonard Cohen, Neil Young und Radiohead neu erfunden. „Das sind alles Künstler, die mich lange begleitet haben. Ich bin eine große Wortliebhaberin. Die Songs wurden während der Laboratoriumskonzerte in meinem Arbeitsraum aufgenommen. Der ist sehr klein. Meine Versionen sind eher Gegenentwürfe zu den betreffenden Songs. Die meisten Hörer haben eine Verbindung zu diesen Liedern, weil sie bestimmte Worte oder Melodiefragmente erkennen. Aber dadurch, dass ich diese Vorgaben auf ganz andere Weise beantworte, entstehen daraus für mich Hörstücke, bei denen sich ein Raum zwischen dem Original und dem, was ich tue, bildet. Da gibt es nichts Festgesetztes, sondern vieles ist improvisiert.“

Für diese Songs schlägt Oona Kastner nicht nur Begeisterung entgegen. Oft sind Hörer enttäuscht oder verstört, weil sich ihre Versionen bis zur Unkenntlichkeit vom Original entfernen. Bewusst greift sie dabei auch auf Stücke zu, die nicht zu den stärksten Einspielungen ihrer Schöpfer gehören. Leonard Cohens Erstaufnahme von „Hallelujah“ zum Beispiel ist die mit Abstand schwächste Version dieses Songs, der in den Interpretationen von John Cale und Jeff Buckley überhaupt erst zu einem ernstzunehmenden Lied wurde. Oder Neil Youngs „Monsanto Years“: Im Original relativ schwach, baut Oona Kastner ein Universum daraus. „Genau das ist ja mein Leid“, seufzt die Sängerin. „Ich liebe die Gedanken und die Poesie in diesen Songs so sehr, dass ich mich frage, warum das so mainstreammäßig verhandelt werden muss. Ich versuche, mich anders mit ihren Texten auseinanderzusetzen. Das mag arrogant anmuten, aber dieses Anliegen begleitet mich schon seit Jahren.“

Als Inspirationsquellen nennt Oona Kastner unter anderem starke Frauen wie Susanna & The Magical Orchestra, Sidsel Endresen oder Sainkho Namtchylak, die allesamt über die physischen Limitierungen ihrer Stimme hinausgehen und kraft der Imagination unendliche Welten zaubern. Einen wesentlich größeren Radius legt sie noch einmal auf der CD Songs from a Darkness frei, die im Duo mit dem Multiinstrumentalisten Dirk Raulf unter dem Logo D.O.O.R. entstanden ist. „Wir haben schon sehr ähnliche musikalische Ideen. Uns beiden liegt dieses Nordisch-Minimalistische. Bei D.O.O.R. stammen die Kompositionen und Texte aber hauptsächlich von Dirk. Die Musik ist viel aufgeräumter, ich selbst bin in meiner Arbeitsweise viel chaotischer.“

© Martin Liebermann

Vielleicht ist gerade das der Grund, dass Oona Kastner auf der CD zu einer ganz anderen Art von Inbrunst findet als auf ihrem Solowerk. In dem deutschsprachigen Song „Tränen“ erinnert ihr Vortrag an die frühe Nina Hagen oder an Lydia Lunch. Aber die Stimmzauberin geht noch weiter. „Ich finde auch manche Songs von Rammstein sehr inspirierend. Es fiel mir sehr lange schwer, mich in deutscher Sprache auszudrücken oder sie als Material zu benutzen. Durch Nina Hagen oder Rammstein wurde das sehr viel leichter.“

Egal ob solo oder in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern – in Oona Kastners Liedern tun sich schwarz glühende Abgründe auf. Seit einem knappen Jahr ist sie auch mit Jan Klares Band The Dorf unterwegs. In größeren Formationen zu arbeiten, wäre ihr ein Wunsch für die Zukunft. Doch erst mal steht der zweite Teil von Live Solo an, unter anderem mit Songs von Nick Cave.

Website:

www.oona-kastner.de