In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Christian Lilllinger

Open Form for Society

Plaist / Edel:Kultur

5 Sterne

Willkommen bei einer Mission, in der einiges an Utopie mitschwingt: Darauf deutet schon der Titel von Christian Lillingers neuem Album hin. Wir kennen die Herangehensweise eines der umtriebigsten Schlagwerker am zeitgenössischen Jazzhimmel: Lillingers Schlagzeugspiel steht immer im Dienst einer konsequent zu Ende gedachten und konzipierten Sache, produziert Ideen, die weit über das eigene Instrument hinausreichen. Das neue Album vereint Protagonisten aus bewährten Besetzungen als da wären Antonios Anissegos, Kaja Draksler und Elias Stemeseder (alle drei Tasteninstrumente), Christopher Dell und Roland Neffe (Mallet-Instrumente), Lucy Railton (vc), sowie Peter Eldh und Robert Landfermann (b). Das sind allesamt Forschergeister, denen alles, nur keine wild ausufernde Beliebigkeit eigen ist. Und so ist das entstehende Gesamtgefüge in jedem Moment von logischen Prozessen, ja fast Algorithmen gesteuert und durchdrungen. Neue Ideen begegnen sich in streng ausformulierten Mustern, es werden Tonskalen, Reihen und Motive aufgespalten und weitergedacht. Neues, Ungeahntes wird frei, nicht zuletzt, wenn mit kühler Präzision das Tonmaterial seziert wird oft an der Grenze des Spielbaren oder jenseits davon anmutend. Wer tiefer analysiert, wird ohne Weiteres einschlägige kompositorische Verfahren aus der Neuen Musik nachweisen können. Bei aller Disziplin lassen es Lillinger und Co. in den hochkomprimierten Stücken aber auch so richtig krachen!

Stefan Pieper

Chick Corea & The Spanish Heart Band

Antidote

Concord Jazz / Universal

5 Sterne

Chick Corea hat seine großartigen Kompositionen der Alben My Spanish Heart und Touchstone aufgehübscht und samt neuen Kompositionen mit einem unfassbaren Oktett aufgenommen – wunderbar! Der 77-jährige Pianist sagt über sich selbst, dass er zwar italienische Wurzeln habe, sich aber musikalisch ganz klar als Spanier fühle. Chick Corea hat sich für seine spanische Wiederauflage eine multinationale Band zusammengestellt, der Trompeter Michael Rodriguez und der Posaunist Steve Davis bilden mit dem Flötisten Jorge Pardo einen unfassbaren Bläsersatz, die SängerInnen Rubén Blades, Gayle Moran Corea und Maria Bianca interpretieren Stücke wie „My Spanish Heart“ oder „Desafinado“ wunderschön, und was für eine Rhythmusgruppe war da im Studio! Allen vorneweg natürlich der Pianist, großartig, inspiriert und beseelt. Seine schrägen Synthesizer-Sololinien mischen sich gekonnt mit den Bläsern, und seine groovenden Klavierbegleitungen schieben die Band nach vorne. Corea zur Seite stehen der Flamenco-Gitarrist Niño Josele, Bassist Carlitos Del Puerte aus Havana, Percussionist Luisito Quintero aus Venezuela, der Enkel von Roy Haynes, David Gilmore, am Schlagzeug und – unglaublich furios der Star unter den Flamencotänzern: Nino de los Reyes mit seinen wirbelnden Füssen. Eines der vielen Highlights der CD ist auf jeden Fall die neue Fassung des Corea-Klassikers „Armando’s Rhumba“, der schon einige Transformationen mitgemacht hat. Das brillante Stück wurde mit Bläsern erweitert, rhythmisch verändert, mit neuen Intros und Interludes bestückt und zu einer furiosen Salsa-Nummer umgerubelt. Muchas gracias, Chick!

Angela Ballhorn

Michele Rabbia / Gianluca Petrella / Eivind Aarset

Lost River

ECM / Universal

5 Sterne

Dereinst wird Lost River, das Debütalbum des Trios, das der italienische Schlagzeuger und Perkussionist Michele Rabbia mit seinem zehn Jahre jüngeren Landsmann, dem Posaunisten Gianluca Petrella, und dem norwegischen Gitarristen Eivind Aarset gegründet hat, in einer Reihe mit anderen Meilensteinen des ECM-Katalogs wie Nils Petter Molværs Khmer und Dança Das Cabeças von Egberto Gismonti stehen. Ähnlich wie dort oder auch bei My Life in the Bush of Ghosts, der Zusammenarbeit von Brian Eno mit David Byrne aus dem Jahr 1981, wachsen dem Rezipienten beim Hören der zehn Originals auf Lost River, deren Titel alle um das Thema Wasser kreisen, neue Ohren gleich büschelweise, auch an dafür nicht vorgesehenen Stellen des Körpers. Nur findet sich das üppige, vertikale Dickicht des Dschungels hier einer skandinavischen Hall- und Blauverschiebung unterworfen, in ätherische Melancholie getaucht, als Anrufung der horizontalen Weite trockener, karger Tundra- und Steppenlandschaften. Eine abstrakt-expressionistische Spurensuche nach dem ersten und wichtigsten aller Elemente, Quell des Lebens, wo es anwesend ist, den gewissen Tod bedeutend, wo es fehlt. Auch die Vielgestaltigkeit und Ambivalenz des Wassers kommt in dieser Musik zum Tragen: seine Ungreifbarkeit, aber auch seine gestaltende, lebensspendende Kraft, Grenze wie Verbindung, Getränk, Elixier, Lösungsmittel, Folterwerkzeug. Aus einer anderen Welt herübergeweht: What Floats Beneath“, eine fragile Ballade von Aarset. Rabbias „Fluvius“ sondiert die Möglichkeiten des Streichquartetts mit elektronischen Stimmen. Auch was sich dem Drahtseilakt kollektiver Improvisation verdankt, hört sich hier nie zufällig oder gar beliebig an.

Harry Schmidt