Phillip Dornbusch
Anhaltender Lernprozess
Auf seinem zweiten Album als Leader des Quintetts Projektor setzt sich Phillip Dornbusch mit dem Thema Rassismus auseinander. Re|construct ist rhythmisch komplex, von forschender Neugier angetrieben und voller tastender Suchbewegungen, doch mit großer Behutsamkeit formuliert. Millennial Progressive Jazz, der die Pandemie hinter sich lassen möchte.
Von Harry Schmidt
Im Gegensatz zum 2021 erschienen Debüt Reflex, das eher den Charakter einer „zufälligen“ Standortbestimmung besaß, sei klar gewesen, dass der Nachfolger auf einer Art inhaltlichem Fundament basieren sollte, so der Tenorsaxofonist. „Ich stelle mir oft die Frage, was für eine Aufgabe Musiker oder auch Kultur generell in der Gesellschaft haben. Die für mich naheliegendste Antwort ist, dass man mit der Musik auch eine Botschaft vermitteln kann.“ Die Rassismus-Debatte verfolge er bereits seit Längerem, sagt der 28-Jährige. Zwar werde er selbst nicht diskriminiert, bei vielen Freunden verhalte sich das allerdings anders. Keinesfalls wolle er vermeintliche Wahrheiten für sich in Anspruch nehmen oder gar Lehren verbreiten, sondern vielmehr „ermutigen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich auch selbst zu hinterfragen.“ Für ihn persönlich handle es sich bei dieser Auseinandersetzung um einen anhaltenden Lernprozess.
Dem dafür essenziellen Moment des Zweifels spürt Phillip Dornbusch ganz explizit in „Doubts“ nach, einer rhapsodischen Komposition voller tastender Suchbewegungen. Noch bevor die ersten Skizzen zur Musik entstanden seien, habe er recherchiert und einige Interviews mit Menschen geführt, die direkt von Rassismus betroffen sind – um sich zu sensibilisieren und im Versuch, deren entsprechende Erfahrungen „zu transformieren.“ Somit könne man Re|construct zumindest in Teilen als Konzeptalbum beschreiben, räumt Dornbusch ein, Programmmusik sei darauf indes nicht zu hören. Eher habe er versucht, emotionale Stimmungslagen wie Wut, Trauer und Mut musikalisch darzustellen, sich assoziativ inspirieren zu lassen.
Meist schreibt er am Klavier, manche Stücke entwickeln sich aus einer einzelnen Figur heraus. Spezifisch ist sein Einsatz von Kontrasten: „Wenn der Groove fließt, stelle ich gerne eine abgehackte oder gebrochene Melodie dagegen.“ Diese Faktur stellt auch eine Sicherung gegen allzu ausgeprägte Gefälligkeit dar: „Für die Lounge im Hotel ist das Album ungeeignet – man sollte es sich schon konzentriert und in Ruhe anhören.“ Vieles in den Klangfarben und Strukturen ergab sich erst während der drei bis vier intensiven Probephasen mit dem Quintett, anderes wurde komplett eingedampft oder auch in Teilen verworfen.
Die Bandmitglieder rekrutieren sich aus zwei Pools: Mit dem oft sehr präsenten Gitarristen Johannes Mann und Schlagzeuger Philip Dornbusch (kurios: nicht verwandt und nicht verschwägert) hat der Saxofonist am Jazz-Institut Berlin studiert, Johanna Summer (p) und Roger Kintopf (b) lernte er dann anschließend im Bundesjazzorchester kennen, das er gemeinsam mit Mann durchlaufen hat.
Obwohl auf der Achse Berlin-Köln verteilt, wirkt die Kommunikation in der Gruppe ausgesprochen vertraut und hochverbindlich. Hellwaches Interplay, ebenso unverbrauchte wie motivierte Herangehensweise und musikalische Expertise gehen hier Hand in Hand. Darauf kann Dornbusch bauen: Improvisation und Komposition halte sich auf den neun Tracks ungefähr die Waage, schätzt der Musiker, der im niedersächsischen Stadthagen aufgewachsen ist und dort wie die Saxofonist*innen Anna-Lena Schnabel und Timo Vollbrecht das Ratsgymnasium besucht hat.
„Inescapable Network of Mutuality“ zitiert im Titel Martin Luther King, auf „In Art We Trust” ist Rapper Juju Rogers zu hören, Sängerin Lisa Knörr in „Anthem“, das auf derselben Struktur beruht wie „Interlude“ (auf dem Dornbusch Bassklarinette spielt) und „Outro“ – zusammen markieren sie „drei kleine Ruhepole“ (Dornbusch) des ambitionierten Albums. Als Einflüsse nennt Dornbusch die aktuelle Berliner Jazzszene mit Protagonisten wie Philipp Gropper mit seiner Band Philm oder Uli Kempendorff, aber auch Niels Klein, den er seinerzeit neben Jiggs Whigham auch als Leiter des BuJazzO kennengelernt hat, zudem Ambrose Akinmusire, Steve Coleman, Petter Eldh und Makaya McCraven.
Den Titel von Re|construct versteht sein Urheber sowohl als Echo des Kompositions- und Probenprozesses wie auch als Ausblick auf eine gesellschaftliche Utopie. Wie damit angedeutet, organisiert sich die Musik als Ergebnis einer Reihe von Operationen aus unterschiedlichen Zerlegungen und Rekombinationen. Oft rhythmisch komplex, von einer forschenden Neugier angetrieben, doch mit großer Behutsamkeit und Nachdenklichkeit formuliert – so könnte man Dornbuschs zweiten Longplayer charakterisieren. Und wie könnte man diese Spielart von Gegenwartsmusik nennen? Auch darüber hat Dornbusch sich bereits Gedanken gemacht: „Millennial Progressive Jazz“ lautet sein Vorschlag. Und das trifft es gar nicht schlecht.
Aktuelles Album:
Phillip Dornbuschs Projektor: Re|construct (Berthold Records / Cargo)