Über den Tellerrand

Optimismus und Gemeinschaftsgefühl

Im vergangenen Frühjahr überraschten estnische Jazz-Aktivisten die Meinungsbildner und langjährigen Leiter repräsentativer Organisationen, die sich im Kulturministerium versammelt hatten, um für die Musikindustrie relevante Themen zu diskutieren. Die Teams des estnischen Jazzverbandes und des Jazzkaar-Festivals hatten eine Jazz-Strategie für die Jahre 2020 bis 2030 diskutiert. In ihr gab es ebenso Platz für das „Jazzhaus der Träume“ wie für die Sammlung des estnischen Jazz-Erbes.

Von Madli-Liis Parts

Unsere Nation ist noch jung, und so steckt auch die bewusste Gestaltung estnischer Musikpolitik noch in den Kinderschuhen. Insgesamt kam daher eine derart professionelle Initiative unserer Jazzmusiker etwas unerwartet. Nun ist man es seit Jahrzehnten von ihnen gewohnt, dass sie still und konsequent handeln, dennoch überraschten sie nun mit dieser Initiative mit Vorschlägen zur Förderung der Jazzausbildung, der Organisation des landesweiten Konzertlebens und zu den Möglichkeiten internationaler Auftritte. Und schon gleich darauf machte ihr Beispiel Schule: Ihre Strategie hat mittlerweile auch andere estnische Musikorganisationen dazu gebracht, einmal in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen, in welche Richtung sich die estnische Musik in den kommenden Jahren entwickeln soll, wo Engpässe liegen und welche Trümpfe Musiker und Organisatoren in der Hand halten, um Estland auch in Zukunft als Musikland zu Glanz zu verhelfen.

Kommt ein Jazz-Enthusiast zum ersten Mal nach Estland, so überraschen ihn mindestens zwei unerwartete Tatsachen: Konzerte und Festivals sind von einem jungen Publikum dominiert, und qualitativ hochwertiger Jazz ist an vielen Orten, auch fernab der Hauptstadt Tallinn zu hören, sei es z.B. in Narva an der russischen Grenze oder auf den Inseln mit ihrer schönen Natur, wo für Konzerte im Grunde die nötige lokale Infrastruktur fehlt. Der Erfolg der estnischen Jazz-Gemeinschaft beruht auf den talentierten Musikern, auf Zusammenarbeit und strategischem Denken. In Estland als kleinem Land mit 1,3 Millionen Menschen in eigenem Sprachraum sind natürlich jede Veranstaltung und jeder Beitrag direkt greifbar, jede Idee und jeder Erfolg zählt. Der estnische Jazz ist eben nicht anonym, und genau das baut ein Gemeinschaftsgefühl auf und führt dazu, dass alle das Beste aus den Möglichkeiten herausholen.

In den nunmehr 28 Jahren estnischer Unabhängigkeit spielten vier Faktoren für den Jazz eine wichtige Rolle: das Internationale Festival Jazzkaar (seit 1989), die Entstehung des Estnischen Jazzverbandes (2004) sowie der Jazzabteilung an der Estnischen Akademie für Musik und Theater (2004) und die Jahrestagung mit Präsentationsfestival des European Jazz Network 2011. Dazu das Sonderprogramm zur Feier des 100. Jahrestags der Republik im Jahr 2018, das den hiesigen Jazzmusikern die außergewöhnliche Gelegenheit bot, ihr Talent auf großen europäischen Jazzfestivals zu präsentieren. Ebenso wichtig ist die Entstehung des Jazzclubs Philly Joe’s, inzwischen integraler Bestandteil des estnischen Konzertlebens und ein heimatliches Testlabor für Ideen.

Estland ist als Land der Komponisten, und zwar nicht nur von Klassikern wie Arvo Pärt, Veljo Tormis, Erkki-Sven Tüür, Helena Tulve oder Tõnu Kõrvits, bekannt. Über Generationen hinweg arbeiteten auch unsere Jazzkomponisten als Autoren für sehr unterschiedliche und genreübergreifende Formationen. So folgt das heutige Musikpublikum begeistert allen Schritten von Kristjan Randalu, einem unserer vielseitigsten Pianisten und Komponisten, der sowohl für Jazz-Ensembles als für auch Kammer- und Symphonieorchester schreibt. Die Saxofonistin und Komponistin Maria Faust begeistert mit ihren frischen kreativen Ideen, ihr neues Werk Maarja missa (Marienmesse) für gemischten Chor und Instrumentalisten wird im April 2020 zu hören sein. Neben Randalu und Faust gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Jazzmusiker, deren Musik einen bedeutenden Teil des estnischen Musiklebens ausmacht.

Das Festival Tudengijazz (Studentenjazz), Feuertaufe und Schulstunde für fast alle der heute aktiven Jazzmusiker, wird im März 2020 zum 38. Mal stattfinden. Unter dem Motto „Jugend für Jugend“ wird das Festival von Jazzstudenten für Jazzstudenten organisiert. Viele machten hier ihre ersten Konzerterfahrungen, und fast alle von ihnen verbinden mit Tudengijazz eine eigene Geschichte – und Erinnerungen daran zaubern ihnen ein Lächeln ins Gesicht.

Heute sind Jazz-Verband und -Festivals wichtige Partner für Behörden wie auch den privaten Sektor, sowohl bei der Planung des Kulturprogramms von Großveranstaltungen, die das Land repräsentieren, als auch bei der Entwicklung neuer Initiativen und nationaler Unterstützungsprogramme oder -strategien. Sowohl Festivals als auch Veranstalter erhalten öffentliche Unterstützung und konkurrieren gleichberechtigt mit Organisationen anderer Musikgenres. Das Kulturministerium stellt der Musikindustrie aus vier verschiedenen Bewerbungsrunden insgesamt 1,1 Millionen Euro pro Jahr an Zuschüssen zur Verfügung, von denen jährlich etwa 15 Prozent an reine Jazzorganisationen gehen.

Die Höhepunkte im estnischen Jazzleben 2020 beginnen mit Jazzkaar im April, danach gibt es im Juni das gemütliche Sõru-Jazzfestival in einem Dorf an der Küste von Hiiumaa und im Herbst IdeeJazz, um nur einige zu nennen.

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Madli-Liis Parts

arbeitete als Eventmanagerin, Produzentin von Musikevents, im Kommunikations- und Marketingmanagement und gibt Music/Media-Kurse. Aktuell ist sie Musikrätin im Kulturministerium Estlands.