Thärichens Tentett
Keine halben Sachen
Manchmal sind es schlechte Nachrichten, die das Leben nachhaltig positiv beeinflussen. Bei Nicolai Thärichen war es die Absage eines Sängers, für den er Arrangements geschrieben hatte und der sich kurzerhand, aus Angst vor Kontrollverlust über das musikalische Geschehen, entschieden hatte, ihn zu feuern.
Von Thomas Bugert
Die Absage des Sängers nahm Nicolai Thärichen zum Anlass, Arrangements in Zukunft in erster Linie für sich selbst und nicht für andere zu schreiben. Nur – was ist ein Arrangeur ohne Band? Kurzerhand rief er Leute an, die er kannte oder mit denen er immer schon einmal spielen wollte. So wurde die Absage vor 20 Jahren zur Initialzündung von Thärichens Tentett, über das der Initiator sagt: „Es war für mich die lehrreichste Erfahrung, diese Band zu gründen, weil ich alles, was ich schreiberisch kann, hier ausprobieren konnte.“ Thärichens Bestreben beim Schreiben der Einzelstimmen ist immer, die ausführenden Musiker vor Augen zu haben und ihnen die Stimmen auf den Leib zu schreiben. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass auf dem Jubiläums-Album No Half Measures fast alle Musiker der ersten CD Lady Moon immer noch mit dabei sind.
Viel ist seitdem passiert. Zu Beginn waren es vor allen Dingen englische Gedichte, die Thärichen vertonte und für sein Tentett arrangierte. Auf dem Album Grateful beispielsweise bildeten Gedichte des schottischen Psychiaters Ronald David Laing die Grundlage der Songs. Er habe zunächst, wie viele Jazzmusiker, ein eher angespanntes Verhältnis zur deutschen Sprache gehabt, erklärt Thärichen: „Auf Deutsch Songtexte zu schreiben, wog für mich immer ziemlich schwer. Ich musste mich davon erst freischwimmen, dass die deutsche Sprache nicht zu Jazzsongs passt.“ Beim Album An Berliner Kinder war es dann so weit, darauf sind alle Texte deutsch. Gleich im Auftaktstück „Deutsch“ behandelt Michael Schiefels Text augenzwinkernd die vermeintliche Schwere der Sprache.
Für das neue Album No Half Measures forderte Thärichen seine Mitmusiker auf, ihre Ideen einzubringen: „Ich wollte den Kollegen Wertschätzung entgegenbringen und ihnen dafür danken, dass sie mir so lange die Treue gehalten haben.“ Die Ideen waren vielfältig. Von Lieblingsstücken bis zu eigenen Gedichten reichte die Palette der Vorschläge. Durch die persönlichen Beiträge aller Musiker, die weit über das reine Solospielen und Interpretieren der eigenen Stimme hinausgehen, ist No Half Measures vielleicht das Album des Tentetts, das auf seine eigene Art und Weise am meisten über die einzelnen Musiker erzählt. Natürlich hat sich der Bandleader auch persönlich eingebracht. Hier ist neben dem Titelsong besonders die Ballade „Love So Strange“ zu erwähnen, die seiner Tochter gewidmet ist.
„Ich habe das Gefühl, dass es eine sehr persönliche Angelegenheit geworden ist“, sagt Thärichen über das Album und ergänzt: „Ich versuche, keine halben Sachen zu machen und mich nicht hinter Virtuosem zu verstecken. ,Dream of Now‘ wäre so ein Beispiel.“ Das Stück, das auf Bläser verzichtet und minimalistisch mit Gesang und Kontrabass beginnt, lebt im weiteren Verlauf im Besonderen von den Klangfarben der Gitarre. Andere Stücke wie das funkige „Tilda Eats Chickpeas“ leben vom Groove und der Rhythmik. Neben Klangfarbe und Groove spielen auch die teilweise skurrilen Texte eine wichtige Rolle.
Egal, ob Thärichen Stücke von den Doors, den Beatles oder Henry Mancini arrangiert oder Gedichte vertont – für ihn ist es immer wichtig, einen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus sich das Stück entwickeln kann: „Ich freue mich immer, wenn ich mit wenigen Ideen haushalten kann. Umso runder wird die Sache, mit der man es dann zu tun hat. Es ist oft leicht, noch viele Ideen dazuzupacken. Das heißt aber nicht, dass der Song dadurch besser wird. Eher wird die Richtung unklarer. Das ist dann eher eine Schrotladung, bei der die Stoßrichtung nicht mehr eindeutig ist. Eine Gewehrkugel trägt weiter, eine Schrotladung verpufft relativ schnell. Mein Ziel ist es gar nicht unbedingt, viele Ideen zu haben, sondern in den Ideen bis zum Ende zu gehen.“
Was Thärichen damit meint, wird am besten im Arrangement von „Paperback Writer“ klar, bei dem aus dem Intro des Beatles-Originals ein eigener wiederkehrender Teil wird. Manchmal, wie beim groovigen „Ich hab dir heut ein Grab gekauft“, kann der Ausgangspunkt auch die Rhythmisierung eines Gedichtes sein, in dem es heißt: „Das wär‘ das Paradies für mich, neben dir ganz langsam zu verfaulen“ – und das mit der Zeile endet: „Denn niemand kann uns dann mehr unterscheiden.“ Was als reiner Text recht morbide klingt, bekommt durch den Groove von Rhythmusgruppe und Bläsersatz eine weitere Ebene. So eröffnet die Musik eine neue Perspektive, aus der man scheinbar Schweres locker und leicht sehen kann.
Aktuelle CD:
Thärichens Tentett: No Half Measures (Laika / Rough Trade)