In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Helge Lien Trio feat. Tore Brunborg

Funeral Dance

Ozella / Galileo

4 Sterne

Ein Requiem in Jazzform, mit zarten Piano-Balladen einem großen Vorbild und Lehrer gedenkend: Das neue Album des Helge Lien Trios ist dem ukrainischen Tastenvirtuosen Mikhail „Misha“ Alperin gewidmet, der 2018 einem Krebsleiden erlag, und ist trotz eines melancholischen Tonfalls keineswegs nur ein Werk der Trauer. Das, so ist sich Lien sicher, wäre dem Leben Alperins nicht gerecht geworden: „Er war sehr intensiv“, erinnert sich der 48-Jährige. „Er feierte das Leben und die Liebe. Er sang, tanzte und lebte seine Musik.“ Mit diesen Gedanken im Hinterkopf hat Lien zusammen mit dem Saxofonisten Tore Brunborg, einem weiteren Weggefährten Alperins, zu komponieren begonnen. „Ich bin mir sicher, Mischa würde wollen, dass wir sein Leben mit Singen und Tanzen feiern, statt seinen Tod zu betrauern“, so der Norweger. „Auf diesem Album machen wir ein bisschen von beidem.“ So schwingt sich Brunberg schon beim Opener „Adam“ in ein lyrisch aufbäumendes Solo, während Lien Ähnliches bei „The Silver Pine“ gelingt. Geradezu vor Energie vibrierend begeistert zudem „Kaldanuten, während „Après un rêve“ das Tänzerische in einer Art Rückschau anklingen lässt. Ähnlich reflexiv ist auch das Titelstück, während „Gupu“ und – noch weitaus extremer – das beinahe schon avantgardistisch anmutende, bedrohliche „Bømlo“ die Stille pulsieren lassen. Ein fröhliches Album ist Funeral Dance dadurch nicht, wohl aber ein bewegendes, nicht zuletzt dank der exzellenten Rhythmus-Arbeit von Bassist Johannes Eick und Drummer Knut Aalefjær, die mit feinen Grundierungen den Boden für Lien und Brunborg bereiten.

Thomas Kölsch

Erkin Cavus & Reentko Dirks

Ütopya

Traumton / Indigo

4 Sterne

2021 blickten die beiden Gitarristen & Komponisten mit Istanbul 1900 in die Vergangenheit der Metropole zwischen Europa und Asien. Ütopya wagt einen Blick ins Jahr 2053, und Erkin Cavus und Reentko Dirks lassen sich von ihrer Hoffnung tragen, dass die Stadt am Bosporus lebenswerter, sozialer, ruhiger und, der Natur und Kultur verbunden, ihren Bewohnern und Besuchern zurückgegeben wird. Ihr neues Album könnte man als Soundtrack einer gewagten Vision verstehen – diese Musik hat aber schon mal den großen Vorteil, jetzt real da zu sein und zu bleiben. Natürlich wird man beim Hören der zehn Tracks, zu denen teilweise Gastmusiker Piano, Strings, Percussion und elektronische Sounds beisteuerten, immer wieder an den utopischen Kontext erinnert, aber ich höre hier absolut keinen naiven Optimismus, sondern immer auch etwas Tristesse, Zweifel, Unsicherheit – Gefühle, die in der aktuellen Situation der Stadt Istanbul absolut nachvollziehbar sind. Die Musik von Ütopya erlebe ich daher eher als Reise in eine hoffentlich gute Zukunft. Ein sensibles Album, musikalisch irgendwo zwischen Acoustic-Fingerstyle, ethnischen Einflüssen und folkigem Jazz schwebend – und diese schönen kleinen Freiheiten, diese Farben und diese Wärme werden irgendwann auch wieder in diese wunderbare Stadt zurückfinden. Hoffentlich noch vor 2053.

Lothar Trampert

Riccardo Gola

Cosmonautica

Millesuoni / Galileo

3,5 Sterne

Cosmonautica ist das erste Solo-Album des italienischen Kontrabassisten Riccardo Gola, das er zusammen mit Saxofonist und Klarinettist Francesco Bigoni, dem Pianisten Enrico Zanisi und dem Schlagzeuger Enrico Morello realisierte. Es ist ein Album, in dem vielfältige Einflüsse zusammenkommen. Insofern passt auch die Metapher des Albums, das Kosmonautik als Kunst der Raumfahrt versteht, wobei auch vielfältige Disziplinen für ein gutes Gelingen nötig sind. Die Musik präsentiert sich auch entsprechend auf einem sehr hohen technischen Niveau. Cosmonautica beginnt mit einem Solo-Kontrabass, der durch sein sparsames Spiel einen akustischen Raum schafft, in dem viel Platz ist. Dieser weite Raum bleibt auch erhalten, wenn die Band einsetzt. Zusammen gestaltet das Ensemble einen Sound, der von Weite und Kühle geprägt ist. Dieser Sound zeigt sich im weiteren Verlauf des Albums in verschiedenen Facetten. Bei dem nostalgisch anmutenden „Anni luce“ oder dem verspielten und swingenden Focus on Gravity“ erkunden die instrumentalen Kosmonauten unterschiedliche Planeten ihrer musikalischen Galaxie. Cosmonautica ist ein Album, das die Zuhörenden mit auf eine musikalische Reise nimmt, in der die Band interessante Klangräume auslotet und in ihnen interagiert. Es ist ein spannendes Album, das mit einem interessanten Konzept aufhorchen lässt.

Thomas Bugert